zum Hauptinhalt
Jedes zweite, dritte Dorf besaß im Mittelalter seinen Walderemiten.

© bpk | Museumslandschaft Hessen K

Leben als Einsiedler: In der Gebetsmühle

Allein fühlt er sich nicht. Denn er ist ja umgeben von Heiligen und ständig im Dialog mit Gott. Seit 27 Jahren wohnt Pater Wolfgang Götz als Einsiedler in einem Wald bei Koblenz. Er sagt, dieses Leben sei ein Privileg. Und er weiß sich auf der Seite des Glücks.

Plötzlich dieses Klopfen. Da pocht jemand ans Haus. An die Wand. Da will jemand herein. In dieser Waldabgeschiedenheit, Weltabgeschiedenheit. Wer denn bloß? Und das Klopfen wird lauter, dringlicher. Aber da schickt Pater Götz schon ein begütigendes Lächeln herüber und entblößt dabei eine spektakuläre Schneidezahnlücke. Keine Bange, sagt dieses Lächeln, da ist niemand. „Da ist nur der Kleiber.“ Wirklich, da sitzt ein kleiner Vogel, blaue Flügel, roter Bauch, vor dem Fenster und hackt mit dem Schnabel auf das Fensterbrett.

Der Kleiber kommt oft hierher, und Pater Götz nimmt sein Klopfen manchmal gar nicht mehr wahr. Denn es gibt ja so viele Geräusche in diesem Wald. Wenn die Füchse bellen und die Wildschweine grunzen und die Rehböcke röhren und manchmal aus der Ferne die Schläge der Kirchenglocken herüberwehen.

Pater Götz kennt sie alle, die Geräusche, seit vielen Jahren kennt er sie schon. Begleitmusik seiner Tage und besonders der Nächte. „Sympathische Geräusche“, sagt er, denn sie erschrecken ihn nicht. Er hat keine Angst in seiner Einsamkeit. „Ich bin so abgelegen“, sagt er, „da findet mich sowieso keiner.“ Nur im Frühjahr und im Herbst, wenn die Stürme durch seinen Wald pfeifen und an den Baumkronen rütteln, Erlen, Eichen, Wildkirschen, Eschen, dann bekommt er doch ein paar Sorgen. Neulich hat der Wind eine Birke entwurzelt, und sie ist auf das Dach seiner Hütte gefallen. Er hatte dann viel zu tun.

Eigentlich hat er meistens viel zu tun. Viel zu viel. Was ein wenig seltsam ist. Denn wenn er etwas im Überfluss hat, dann ist das – Zeit. Pater Wolfgang Götz ist 66, und von diesen Jahren hat er bisher 27 als Einsiedler verbracht, als frommer Eremit, tief im Wald auf dem Berg Sion, einer Anhöhe über dem Rhein bei Koblenz. Und wenn einer so ganz allein seine Tage und Wochen und Jahre verbringt und die Stunden in der Einsamkeit auch mal lange Stunden werden, dann müsste er doch gar nicht wissen, wohin mit all diesem Reichtum an Zeit.

Pater Götz weiß das sehr wohl. Denn er hat eine Aufgabe, eine Lebensaufgabe. Er muss beten.

Darum steht er jeden Morgen um halb fünf auf aus einem sehr schmalen Bett, das er sich in einen Winkel seiner Klause gestellt hat; denn um fünf Uhr ist sein erster Gebetseinsatz. „Vigil“ heißt das in der theologischen Sprache. Und kaum ist die zu Ende gebetet, wartet schon das nächste Gebet, die „Laudes“. So zwischen fünf und acht Uhr am Morgen ist das „ein großer Schub an Geistlichkeit“, sagt Einsiedler Götz, und dann rasiert er sich an seinem kleinen Waschbecken. Weil er nämlich nicht so ein Eremit ist, wie man sie aus den romantischen Klischees zu kennen glaubt – wallende Bärte, zottelige Haare, womöglich ein Bärenfell um den Leib. Pater Götz trägt eine schwarze Soutane, schließlich ist er geweihter Priester, seine Haare fallen ihm nicht wild vom Kopf, er hat ja kaum mehr welche, und sein Kinn ist glatt rasiert. Das, sagt er, sei eben die westliche Priestertradition, das mit den Rauschebärten gehört zur Ostkirche. Und dann greift er zur Motorsäge.

Er hat nicht genug von diesem Leben, wird es nie haben

Pater Götz in seiner Klause.
Pater Götz in seiner Klause.

© Wolfgang Prosinger

Weil draußen im Wald eigentlich immer etwas zu tun ist. Holz machen hauptsächlich, für den kleinen Ofen, der die Wärme in seine Klause bringt. Und Pater Götz ist ein großer Holzmacher, ein passionierter geradezu. Nicht nur im Schuppen neben seiner Hütte stapeln sich die Scheite, überall im Umkreis seiner Behausung hat er gewaltige Stapel angelegt, zehn, zwanzig, dreißig. Er wird nicht frieren müssen – und würde er hundert Jahre alt. Sollte er eines Tages genug von der Einsiedelei haben, er könnte sofort ein lukratives Geschäft als Brennholzhändler aufmachen.

Aber Wolfgang Götz hat nicht genug, wird es nie haben. Weil das Einsiedeln sein Lebensweg ist, seine Berufung. Und eine Berufung sucht man sich ja nicht einfach aus. Die hat Gott für ihn ausgesucht, genauer gesagt der Heilige Geist. Für ihn, den Schreinersohn aus Mainz. Denn Gott, davon ist Wolfgang Götz felsenfest überzeugt, hat einen Plan mit den Menschen. Und mit ihm hat er eben den Plan gehabt, ihn zum Einsiedler zu machen. Schon als Schüler habe er diesen Wunsch gehabt, sagt er. „Gott hat mich geführt.“ Und zwar hierher in die Berge überm Rhein, hierher in seine Holzhütte. Dann legt er ein neues Holzscheit in den Ofen und erzählt weiter, wie er seine langen Tage verbringt.

Die Arbeit mit der Motorsäge ist nicht das Einzige, was er zu tun hat. Er muss sich ja noch um seine Bienen kümmern, drei Völker, muss den Honig schleudern, den Trampelpfad in Ordnung halten, der durch den Wald zu seiner Hütte führt. „Einsiedelei Nazareth“ steht auf einem Schildchen daran. Und dann kommt noch die Gartenarbeit rund um die Klause dazu, überhaupt, er ist auch so etwas wie ein Landschaftspfleger. Nicht auszudenken, wie das alles verwildern würde ohne ihn.

Kurz vor zwölf Uhr mittags ist dann schon wieder Zeit für das Eigentliche. Fürs Gebet. Jetzt ist die „kleine Hore“ dran, so heißt das nun mal. Und wenn sie zu Ende gebetet ist, zieht Pater Götz seinen schwarzen Mantel an, setzt das schwarze Basecap auf und macht sich auf den Weg.

Der führt zuerst steil jenen Trampelpfad bergauf durch den Wald, gelangt dann auf eine weite Hochfläche, über die an diesem Spätmärztag ein eisiger Wind fegt und von der die Blicke hinunter zum Rhein schweifen können, der in der Sonne verführerisch glitzert, oder hinüber zum nahen „Vaterhaus“. Das ist das Ziel von Pater Götz’ Wanderung. Zwei Kilometer sind es von seiner Hütte hierher. Er geht sie jeden Tag; denn das „Vaterhaus“ ist wichtig. Es ist die Verbindung des Eremiten zur Welt. Hier holt er sich nicht nur sein Mittagessen, hier kann er auch Zeitungen lesen oder gar im Fernsehen Nachrichten schauen. Was zur Folge hat, dass Pater Götz sehr genau Bescheid weiß über all das, was geschieht in der Nähe und der Ferne. Der Einsiedler ist durchaus von dieser Welt.

Das „Vaterhaus“ ist die Zentrale der „Schönstatt-Bewegung“, einer 1914 gegründeten katholischen klösterlichen Organisation, die die Kirche modernisieren wollte und mittlerweile auf der ganzen Welt verbreitet ist. Wolfgang Götz ist nach seinem Theologiestudium in Münster hierhergekommen, war Novize, dann Teil der klösterlichen Gemeinschaft, ehe ihm von seinen Oberen erlaubt wurde, sich seinen Jugendtraum zu erfüllen und jene Hütte zu bauen, in der er heute noch immer lebt.

Diese Anbindung an die „Schönstatt-Patres“ hat nicht nur den unschätzbaren Vorteil des warmen Mittagessens und der Begegnung mit anderen Glaubensbrüdern, sondern noch entschieden irdischerer Vergünstigungen. Weil auch ein Eremit Geld braucht. Nicht gerade viel, aber manchmal muss er doch einkaufen gehen oder braucht neue Schuhe. Manchmal kommt auch ein frommer Spender des Wegs und hilft Pater Götz über einen finanziellen Engpass hinweg. Den Rest erledigt die „Schönstatt-Gemeinde“. Die übrigens auch die Krankenversicherung übernimmt. Der Einsiedler – so ändern sich die Zeiten – ist Mitglied bei der Barmer.

So verbinden sich hier also Welt und Weltabgeschiedenheit aufs Schönste, und Pater Götz trägt jetzt sein Mittagessen zurück zur Hütte. Denn so weltzugewandt soll es ja nun doch nicht zugehen, dass er gar in der Gemeinschaft der anderen äße. Nein, er verzehrt seine Mahlzeit allein in seiner Klause, an einem winzigen Tisch, der gerade Platz für einen Teller bietet, und falls das Essen auf dem Zwei-Kilometer-Transport kalt geworden sein sollte, hat Pater Götz ja seinen Camping-Kocher, zweiflammig, auf einer kleinen Kommode stehen. Ansonsten gibt es in dieser Stube, 16 Quadratmeter groß, einen Schreibtisch, einen Betschemel zum Niederknien, einen großen Kerzenständer und an der Wand ein überlebensgroßes Holzkreuz. Daneben hängen Rosenkränze und von der Decke baumelt ein rotes Behältnis, in dem eine Kerze flackert: das ewige Licht, das Symbol der Gegenwart Gottes. Und auf dem Schreibtisch steht ein anderes Licht, ein weltliches: eine kleine Petroleumlampe. Elektrischen Strom gibt es hier nicht.

Er hat es gut hier, findet Pater Götz, hat alles, was er braucht. Da kenne er Einsiedler mit ganz anderen Behausungen, zum Beispiel den Eremiten bei der Stadt Höxter im Weserbergland. 1,50 mal 1,70 Meter – das seien die Abmessungen von dessen Klause, tagsüber muss der Kollege sein Bett an die Wand klappen. Da lebe er, Wolfgang Götz, geradezu im Luxus.

Langeweile? Nun ja, er will nicht lügen. Es gibt so "Perioden"

Dabei hat er das Luxuriöseste seinem Besucher noch gar nicht gezeigt. Einen Überfluss an Luxus geradezu. Seit ein paar Jahren besitzt Pater Götz eine eigene Kapelle, einen kleinen Anbau an seiner Hütte. Sogar ein Altar steht darin, so kann er hier jeden Freitag und Samstag die heilige Messe feiern. Manchmal kommen Besucher zum Mitfeiern.

An die Wände seiner Kapelle hat Wolfgang Götz sechs Ikonen gehängt. Bildnisse berühmter Einsiedler, den heiligen Benedikt etwa, den heiligen Bruno und den Urvater aller Eremiten, Johannes, den Täufer, der sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährte und in der Wüste lebte. Wüste heißt auf Griechisch „Eremos“. Sie hat den Eremiten den Namen gegeben.

In nördlicheren Zonen war indessen der Wald die natürliche Eremitenheimat. Gerade im Mittelalter hat es sehr viele gegeben, die auf Zivilisations- und Weltflucht gingen und ein Leben für Gott und für nichts sonst führten. Jedes zweite, dritte Dorf besaß seinen Walderemiten. Und die Gläubigen pilgerten zu den Höhlen und Hütten, in denen sich ein geheimnisvolles und offenbar heiliges Leben abspielte, begierig auf die Weisheit dieser wunderlichen Menschen und ebenso erpicht darauf, dass von deren frommem Glanz ein wenig auf sie, die allzu Sündigen, abstrahle.

Pater Götz übrigens, der sich mittlerweile seinem Nachmittagsprogramm hingegeben hat, das zunächst in der Lektüre erbaulicher Schriften besteht, Pater Götz also ist durchaus ein Anhänger dieser Abstrahltheorie. Denn sein Leben im Extrem, diese Radikalität der Gottsuche, strahle ja durchaus etwas aus, glaubt er. Also kein selbstsüchtiges Leben außerhalb der Gemeinschaft? Kein Ego-Trip? „Nein, ich kann dem anderen sagen: Es gibt diesen Weg!“ Gerade darum sei es sinnvoll, wie er lebe. Da ist er sich ganz sicher.

Aber wenn man nicht an die Gegenwart Gottes glaubt?

„Dann ist es völlig sinnlos.“

Am späteren Nachmittag zieht Pater Götz erneut seinen Mantel an, und wieder geht er hinauf zum „Vaterhaus“, wieder zwei Kilometer, kniet sich dort in einer Kapelle nieder, kniet in stiller Anbetung eine Stunde, geht wieder zurück, zwei Kilometer. Und dann ist auch schon Zeit für die nächste Station dieses täglichen Langstreckenbetens, die „Vesper“ um 18 Uhr steht auf dem Programm, und gleich darauf folgt die „Komplet“, 20 Uhr. Und dann ist schon Schlafenszeit.

So vergehen die Tage, und sie ähneln sich. Wer aber jetzt meinte, diese Gebetsmühen, dieses Gebetseinerlei könnte in seinen stetigen Wiederholungen das Eremitenleben in graue Monotonie verwandeln, der irrt sich gewaltig. Nein, nein bricht es aus Pater Götz heraus, und etwas wie Begeisterung schwingt durch seine Schneidezahnlücke, „das ist das Rückgrat des Tages, diese Stundengebete, diese dauernde innere Verbundenheit mit Gott, dieser ständige Dialog“. Ein Privileg sei dieses Leben, das er teilt mit etwa 80 anderen Einsiedlern, die es zurzeit in Deutschland noch gibt. Und er weiß sich auf der Seite des Glücks: „Das Gebet ist die größte Großmacht.“

Aber die Einsamkeit? Die ständige Begegnung mit sich selbst? Pater Götz lässt an seinem Glück nicht rütteln. Er ist doch gar nicht einsam, ist doch gar nicht allein.

„Ich bin immer in Gemeinschaft.“

Ach ja?

„Natürlich. In der Gemeinschaft der Heiligen, in der Gemeinschaft der Engel.“

Und die Langeweile? Nun ja, er will nicht lügen, da gibt es, sagt er, schon solche „Perioden“. Besonders bei schlechtem Wetter. Da müsse man dann tief Luft holen.

„Wissen Sie, auch ein Einsiedler hat Schwächen.“

Welche denn?

„Das sage ich Ihnen nicht. Dafür habe ich meinen Beichtvater.“

Erschienen auf der Dritten Seite.

Zur Startseite