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Die Einsamkeit auf dem Land hat auch ihre Schönheit.

© Patrick Pleul/dpa

Landflucht in Ostdeutschland: In Würde vereinsamen

Die Abwanderung stellt besonders in Ostdeutschland viele Landstriche vor große Herausforderungen - in diesen Gemeinden wird kräftig improvisiert. Die Politik muss sie unterstützen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Vielleicht stimmt das doch nicht. Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl. Denn Gefühl kann man auch für Landschaften entwickeln und für Menschen, die in ihnen wohnen – selbst wenn sie immer weniger werden. Wie heimat-/gesichts-/lieblos werden Landstriche, wenn sie Stück für Stück aufgegeben werden von denen, deren Familien ihre Lebenslinien dort über Generationen eingraviert haben? Wie viel wert sind uns gelebte Leben von Menschen, für die Peripherie ihr Zentrum ist? Müssen wir ihre Heimat aufgeben – und damit auch sie?

Faktisch passiert das längst. Dörfer mit 20 bewohnten Häusern und viel mehr verfallenden gibt es eine Autostunde (oder zwei Zugstunden) von Berlin und seinem aufgeblähten Speckgürtel entfernt zuhauf. Bevölkerungswissenschaftler und Zukunftsforscher sagen aktuell mal wieder voraus: Bald wird es insbesondere in Ostdeutschland entvölkerte Regionen geben, die sich abseits aller Dorfgartenschauen in wirklich blühende Landschaften verwandeln und durch deren Wildnis Wölfe streifen. Wird sich Deutschland, eines der zersiedeltsten Länder der Welt, bald nur noch über seine Metropolregionen definieren und die Lebenslinien auf dem Lande austrocknen lassen? So schlimm darf es nicht kommen – und wird es nicht, wie ein genauer Blick in die ostdeutschen Länder zeigt. Denn zwischen Ostsee und Erzgebirge wird schon längst erfolgreich im Schwund improvisiert. Kluge Politik muss das zulassen und sollte das fördern.

Gerade die Abwanderung der Jungen, der Gebildeten, der Frauen stellt abgelegene Regionen seit dem Schock der kollektiven Einheits-Arbeitslosigkeit vor Herausforderungen. Droht der Prignitz die Vergreisung, der Uckermark die Verblödung? Die Menschen fernab vom Stadtrand haben sich auf ihr – natürlich beschwerlicheres – Leben eingerichtet. Der rollende Laden holpert in den sächsischen Bergen zweimal die Woche über die Schlaglochstraßen, der Nahverkehr besteht in Vorpommern zuweilen aus einem Großraumtaxi in Rufbereitschaft. Kinder lernen in Zwergschulen, die die letzten verbliebenen Eltern lieber selber betreiben, anstatt ihre Kleinen täglich auf eine einstündige Schulfahrt zu schicken. Und in Brandenburg versucht man junge Mediziner mit günstigen Grundstücken aufs Land zu locken. Klar ist aber auch: Der Waldweg zur nächsten Ortschaft wird nicht mehr geflickt; Arbeit, von der man leben kann, bleibt hier selten liegen.

Die einzige Rettung für die Hierbleiber ist oft der Breitbandanschluss – breitflächiges Internet ist auf dem Land längst wichtiger als frisch asphaltierte Straßen. Denn es gibt auch eine kleine, feine Gegenbewegung im Umland von Berlin. Fernab suchen Aussteiger ihr Glück im Grünen, und Lebenskünstler verwirklichen Träume von der Landlust weit draußen. Der massenhafte Wegzug ostdeutscher Wirtschaftsflüchtlinge in die Metropolen lässt sich damit nicht mehr rückgängig machen. Eine Umkehr gäbe es höchstens mit einer Einwanderungspolitik, die diesen Namen verdient. Bis es so weit ist, wird es in deutschen Landen immer ländlicher. Schlimm ist das nicht.

Die Menschen am Rande dürfen nicht vergessen oder aufgegeben werden, auch wenn sie bescheidener leben, leben müssen. Neben dem Recht, in Würde zu altern, muss es auch das Recht geben, in Würde zu vereinsamen. In der Heimat, der schönen.

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