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Blick vom Mahnmal der Sinti und Roma im Berliner Tiergarten Richtung Reichstagsgebäude

© Jörg Carstensen/dpa

Lage der Sinti und Roma: Kommission fordert Antiziganismusbeauftragte

Eine Unabhängige Kommission hat im Auftrag des Bundestags zur Lage der Sinti und Roma berichtet. Sie fordert, das Thema ganz oben auf die Agenda zu setzen.

Ein Menschenleben hat es gedauert bis zur Anerkennung. 74 Jahre brauchte die Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende der NS-Völkermorde, um sich auch mit dem Genozid an den Sinti und Roma offiziell auseinanderzusetzten. Auf diese lange Zeit von Verleugnung und Verdrängung wies am Donnerstag Elisabeta Jonuz hin, Sozialpädagogin, Professorin an der Hochschule Hannover und Vorsitzende der „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“, die jetzt ihren Abschlussbericht nach zwei Jahren Arbeit vorlegte.

Sie ging auf den Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union zurück und sollte zunächst eine Bestandsaufnahme vorlegen - vor allem dessen, was Sinti und Roma noch nach der nationalsozialistischen Verfolgung widerfuhr. Das NS-Regime ermordete geschätzt eine halbe Million Menschen der Minderheit. Sie ist nicht nur die größte, sondern gilt auch als die am meisten verachtete und drangsalierte Europas.

Anders als bei andern Verfolgten setzte sie sich für Sinti:zze und Rom:nja umfassend und bis in Verordnungen und Rechtsprechung auch nach 1945 fort. Mithilfe von Polizeikarteien, die aus dem Kaiserreich und der NS-Zeit stammten, ging ihre Verfemung noch bis in die 1980er Jahre weiter - teils betrieben von denselben Beamten,, die sie als ihre Verfolger aus der NS-Diktatur kannten. Roma-Familien finden bis heute schwer oder keine Wohnungen, Sinti:zze wagen am Arbeitsplatz nicht, von ihrer Herkunft zu sprechen, Kinder der Minderheit waren in den Schulen Demütigungen ausgesetzt – und sind es bis heute.

Abschiebung auf den Balkan, Morde in Hanau

Die Erziehungswissenschaftlerin Jane Weiß berichtete am Donnerstag von Läusekontrollen vor den Augen der ganzen Klasse, von Sondereingängen für Roma-Kinder und deren Aussonderung wegen angeblicher geistiger Behinderung, obwohl die begutachtenden Lehrkräfte selbst zugaben, dass die nicht vorlag.

Wer zur Minderheit gehöre, erlebe nach wie vor spezifischen antiziganistischen Rassismus „in allen gesellschaftlichen Teilbereichen“, sagte Jonuz, „bei der Wohnungssuche, im Gesundheitswesen, in der Schule und an der Universität, bei der Polizei und auf Behörden, in der Sozialarbeit, im Bus, in sozialen Medien und in der Medienberichterstattung“.

Auch die Arbeit der elfköpfigen Kommission unter ihrer Leitung hätten entsprechende Ereignisse begleitet und die Größe des Problems sichtbar gemacht, sagte Jonuz. Sie verwies auf die Abriegelung eines ganzen Wohnblocks und seiner Bewohner:innen während der Pandemie, die Morde von Hanau mit drei Opfern aus der Minderheit und die regelmäßige Abschiebung von Roma aus Balkanländern, „europäische Bürger“. Für Menschen der Minderheit „gibt es keine sicheren Herkunftsländer“, so Jonuz. Auch die Gefährdung des Mahnmals der Sinti und Roma im Berliner Tiergarten – darunter soll die S-Bahn 21 gebaut werden - sieht die Wissenschaftlerin in dieser Reihe.

Um die Lage nach Jahrhunderten der Verfolgung zu ändern - schon vor der NS-Zeit wurden „Zigeuner“ wie Jüdinnen und Juden gesellschaftlich an den Rand gezwungen und immer wieder Opfer von Pogromen - hat sich die Unabhängige Kommission auf eine Reihe von Forderungen an die Politik in Bund, Ländern und Kommunen geeinigt. Man spreche bewusst nicht von Empfehlungen , sondern fordere dies, erklärte Jane Weiß.

Ausgleich für Benachteiligung gefordert - und eine Wahrheitskommission

Forderung Nummer eins ist ein „grundlegender Perspektivwechsel“ in Politik, Rechtsprechung und Gesellschaft - die Anerkennung, dass es antiziganistischen Rassismus gibt. Dazu müsse auf höchster politischer Ebene ein Arbeitskreis im Kanzleramt berufen werden, in dem die Betroffenen selbst „angemessen“ vertreten seien. Ein hoher politischer Rang des Arbeitskreises, vergleichbar dem für Antisemitismus, sei unabdingbar, wenn der Perspektivwechsell gelingen solle, sagte Jonuz. Auch die Berufung eines oder einer Beauftragten nach dem Vorbild des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung fordert das Fachgremium.

Weitere Forderungen sind eine Bund-Länder-Kommission, die die alten Benachteiligungen von Sinti und Roma durch Strukturmaßnahmen beenden soll und eine „Wahrheitskommission“ – sie gab es in den 1990er Jahren zuerst in Südafrika. Es gelte hier, das „hermetische Schweige- und Entlastungskartell“ nach 1945 zu brechen, das die lange Fortsetzung dieses besonderen Rassismus „ständig aktualisiert“ und die „zweite Verfolgung“ in der Bundesrepublik erst möglich gemacht habe.

Am Abend diskutierte der Bundestag über den Bericht, der die Einrichtung der Unabhängigen Kommission vor zwei Jahren mit breiter Mehrheit beschlossen hatte. Die Rede des AfD-Abgeordneten Markus Frohnmeier löste einen Eklat aus. Die Parlamentarier:innen, die nach ihm sprachen, distanzierten sich teils heftig von ihm, der SPD-Abgeordnete Helge Lindh wurde von Vizepräsidentin Dagmar Ziegler (ebenfalls SPD) um Mäßigung gebeten, nachdem er auf Frohnmeier mit den Worten reagiert hatte: "Die AfD reiht sich in die Tradition des Nationalsozialismus ein, das haben Sie eben bewiesen."

Der AfD-Mann hatte der Kommission vorgeworfen, sie wolle "die Grundlagen unserer Zusammenlebens verändern", betreibe Überwachung, Kontrolle und Zensur" und wolle, dass "ganze Bücher umgeschrieben" würden. Das sei "ein Verbrechen an der Literatur und Kultur". Frohnmeier benutzte mehrfach den Begriff "Zigeuner" und nannte ihn "ein Wort, das eigentlich völlig natürlich und normal benutzt werden sollte". Über die von der Minderheit selbstgewählte Bezeichnung "Rom:nja" machte er sich lustig.

Eklat um Rede der AfD

Die AfD hatte seinerzeit als einzige Fraktion der Einrichtung der Kommission nicht zugestimmt. Alle anderen Fraktionen stellten sich während der Debatte - anwesend waren auch Vertreter der Minderheit, darunter Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma - hinter das Anliegen der Kommission. Der CSU-Abgeordnete Volker Ullrich warf Frohnmeier vor, er benutze mit Blick auf seine Wählerbasis ganz bewusst ein Wort, das Sinti und Roma als beleidigend empfänden. "Das ist eine Strategie der Niedertracht", sagte Ullrich.

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Für zwei Abgeordnete war ihre Rede zum Bericht der Kommission die letzte vor dem Ausscheiden aus dem Bundestag. Die Linke Ulla Jelpke, die dem Parlament dreißig Jahre lang angehört hatte, nannte es "eine Ehre", gerade zu diesem Thema zum letzten Mal vor dem Plenum sprechen zu können.

Die ebenfalls ausscheidende sächsische SPD-Abgeordnete Susann Rüthrich sagte, Rassismus funktioniere in einer Gesellschaft als Platzanweiser. Entsprechend gehe es auch in der Debatte zum Antiziganismus "nicht um einige absichtsvoll handelnde Rassisstinnen und Rassisten" - hier ging ihr Blick Richtung AfD - "sondern um Gesetze". Den Kolleginnen und Kollegen gab die scheidende Abgeordnete auf, wachsam zu bleiben: "Auch die Nazis brauchten nicht die Mehrheit, sie brauchten die, die ihnen zur Mehrheit verhalfen. Ich vertraue Ihnen, dass Sie den Antidemokraten hier nie dazu verhelfen."

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