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Hüter der Verfassung: Auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts - hier Ex-Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle - vom letzten Jahr halten die Bürgerrechtsinitiativen des Grundrechtereports für problematisch.

© Sebastian Gollnow/dpa

Lage der Grundrechte 2022: Wenn Bürgerrechte zum Schadensfall werden

Seit 25 Jahren erscheint der Grundrechtereport. Wichtige Verfassungsprinzipien wurden 2021 demnach in Afghanistan und während der Klimaproteste verletzt.

“Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln” heißt es im 8. Artikel des Grundgesetzes. Doch was ist, wenn sie sich aus Protest gegen die Klimakatastrophe auf privatem Grund versammeln, zum Beispiel auf dem Gelände von Firmen, deren Produktion besonders klimaschädlich ist? Und was bleibt vom Versammlungsrecht, dem womöglich frühesten demokratischen Recht, wenn diese Firmen sich – wie in letzter Zeit immer häufiger -  dagegen mit viel Geld und guten Anwälten wehren und alle mit Klagen überziehen, die gegen sie protestieren? 

“Die Würde des Menschen ist unantastbar”, das ist gleich der erste Artikel der deutschen Verfassung. Doch was bleibt davon, wenn zwei Strafgefangene in einer Zelle von 7,41 Quadratmetern hausen müssen? Oder Menschen selbst in dringenden Fällen nicht zu einer Ärztin oder ins Krankenhaus können – weil sie ohne anerkannte Papiere in Deutschland sind? 

Zwei Beispiele aus dem jüngsten “Grundrechtereport”, der in dieser Woche erschienen ist. Zehn Bürgerrechtsorganisationen und juristische Vereinigungen bringen diesen “Bericht zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland” seit 1997 jedes Jahr heraus.

In der Ausgabe 2022 werden rund zwei dutzend Grundrechte, die das Grundgesetz garantiert, als missachtet aufgeführt, die Verfassungsbrüche durch den Staat – der aus Sicht der Autor:innen eben auch den Missbrauch des Zivilrechts und Schadenersatzforderungen gegen Klimaaktivist:innen duldet – dokumentiert und diskutiert. Anspruch auf Vollständigkeit erheben die Macher:innen nicht; man wolle aber ein möglichst breites Spektrum gefährdeter Bürger- und Menschenrechte abdecken.

Abwehr von Protest: Unternehmen sind im Vorteil

Außerdem widmet sich jeder Grundrechtereport Schwerpunktthemen. Im letzten Jahr waren das die Grundrechtseinschränkungen in der Pandemie und deren sehr unterschiedliche Folgen, je nachdem, ob Menschen in der Mitte der Gesellschaft sie treffen oder die am Rande. Im aktuellen Rückblick aufs letzte Jahr geht es um Rechtsbrüche im Zusammenhang mit dem Abzug aus Afghanistan und um die Klimaproteste.

So griff die bayerische Polizei massiv ein, um Proteste gegen die Automobilmesse IAA in München zu verhindern, schreibt die Münchner Strafrechtsanwältin Antonella Giamattei. Demonstrant:innen wurden vorsorglich weggesperrt (“Unterbindungsgewahrsam”), nachdem sie Protestplakate an Autobahnbrücken aufgehängt hatten. Weil sie den Stand eines Automobilherstellers mit – abwaschbarer – Sprühkreide verunziert hatten, blieben andere zwölf Stunden lang in Polizeigewahrsam.

Der umfassende Schutz ihres Eigentums, den in Deutschland Unternehmen genießen, mache es möglich, die Polizei gegen Protestierende einzuschalten. Wenn Eigentum bedroht scheint, darf sie ihre Personalien feststellen und sie festnehmen, schreiben Laura Jacobs und Joschka Selinger. So geschehen beim Protest gegen den Ausbau des Frachtflughafens in Leipzig.

Die Polizei respektierte ihn als legitim und griff nicht ein - bis das Transportunternehmen DHL behauptete, die nächtliche Blockade einer ihrer Zufahrten habe einen Schaden von anderthalb Millionen Euro angerichtet.  Diese “einseitige Privilegierung” von Firmen könne Protest aushebeln; eine pauschale Behauptung genüge.

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Und der Staat hilft per Gesetz nach. Das neue Versammlungsgesetz, das seit Dezember 2021 im bisher schwarz-gelb regierten Nordrhein-Westfalen gilt, heißt es im Report, stelle “Artikel 8 Absatz 1 GG als Abwehrrecht gegen den Staat, als Schutz vor dem Staat grundlegend in Frage." Es sei "ein Gesetz, das Versammlungen als Gefahr ansieht”, schreibt die Bonner Anwältin Anna Magdalena Busl. Die Polizei könne sogar Versammlungsleitungen ablehnen oder einzelne Ordner. Der Grundsatz, dass Demonstrationen grundsätzlich keiner Erlaubnis bedürfen, werde im Gesetz ins Gegenteil verkehrt.  

Im Falle des anderen Schwerpunkts im Report, Afghanistan, machen die Autorinnen und Autoren gleich ein ganzes Panorama von Grundrechtsverletzungen auf: Unter den 5000 Menschen, die die Bundesregierung in den Tagen des chaotischen westlichen Abzugs im vergangenen September ausgeflogen habe, seien lediglich 140 so genannte Ortskräfte gewesen, also die, die jahrelang als Übersetzerinnen, Fahrer, Servicepersonal für die Bundeswehr und deutsche Nichtregierungsorganisationen gearbeitet hatten und deshalb besonders im Fadenkreuz der Taliban stehen - nicht erst seit dem Abzug, wie die Verfasser:innen schreiben.

"Alternativer Verfassungsschutzbericht"

“Der Großteil der rund 20 000 Menschen, die aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem deutschen Staat um ihr Leben und das ihrer Familienangehorigen fürchten mussten, blieb somit im Land zurück“, heißt es dazu im Kapitel “Verdrängte grundrechtliche Schutzpflichten für afghanische Ortskräfte”. 

Sehr viel leichter ging es für Afghanen in umgekehrter Richtung zurück, denn auch das Asylrecht aus Artikel 16a des Grundgesetzes habe es für viele von ihnen jahrelang nicht gegeben. Der Mythos, dass Afghan:innen in Teilen des eigenen Landes sichere Orte finden könnten, diente dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Hauptargument, die Anträge Schutzsuchender abzulehnen.

Selbst als die Taliban bereits weite Teile des Landes wieder in der Hand hatten, bekam noch mehr als ein Drittel derer, die es überhaupt nach Deutschland schafften, keinen Schutztitel. Obwohl das UN-Flüchtlingskommissariat spätestens seit 2018 keinen sicheren Ort mehr im Land sah, schob Deutschland immer wieder dorthin ab – von 2016 bis wenige Tage vor der vollständigen Machtübernahme der Taliban im August 2021, insgesamt 1104 Männer, heißt es im Bericht.

Berüchtigt wurde die öffentlich geäußerte Freude des damaligen Innenministers Horst Seehofer über eine Abschiebung von 69 Afghanen am 11. Juli 2018 (“ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag”).

Kava Spartak vom Vorstand der Initiative “Yaar”, die sich für afghanische Flüchtlinge einsetzt, einer der Podiumsteilnehmer während der Vorstellung des Grundrechtereports, brachte die besondere Härte gegen Menschen “ausgerechnet aus einem Land, in seit 40 Jahren Krieg herrscht” in Zusammenhang gerade mit der Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan. Statt den Wissensstand internationaler Organisationen wie des UNHCR heranzuziehen, seien für das Nein der Behörden gegen Asylsuchende die Lageberichte des Auswärtigen Amts ausschlaggebend gewesen.

Das Amt aber habe die Lage “geschönt”,  weil es die Hoffnung haben bedienen wollen, sie werde sich mindestens nicht verschlechtern.  Die “Evakuierungskatastrophe”, urteilt er, sei “wie der gesamte Einsatz ein Versagen, ein Verrat an der Demokratie.”

Der Grundrechtereport gelte zurecht als “alternativer Verfassungschutzbericht”, lobte die Publizistin und Antirassismus-Fachfrau Ferda Ataman, dieses Jahr Kommentatorin des 222 Seiten starken Werks. Sie hob die Hinweise hervor, die es zur, so Ataman, “Unterwanderung der Demokratie durch Rechtsextreme” enthält – sie nannte unter anderem das Attac-Entscheidung des Bundesfinanzhofs von Anfang 2021, der Gemeinnützigkeit nur noch anerkennen will, wenn es für das politische Engagement eines Vereins oder einer NGO einen anerkannten Zweck in der Abgabenordnung gibt.

Richter stimmt NPD-Parole zu

Da müsse sich nun jeder Fußballverein gut überlegen, ob er sich noch gegen Rassismus auf dem Rasen engagiere. “Es bleibt im Grunde nur noch der Einsatz für den verstaubten Begriff der Völkerfreundschaft”, urteilt Ataman. Die AfD nutze die Entscheidung bereits, um gegen Initiativen vorzugehen, die sie anprangern.

Einen weiteren verstörenden Fall berichtet der Berliner Sozialrichter John Philipp Thurn in seinem Text zum Grundgesetz-Artikel 101 (“Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.”) Ein Gießener Verwaltungsrichter hatte der NPD Recht gegeben, als die dagegen klagte, dass die Stadt ihre Plakate als volksverhetzend hatte entfernen lassen. In seiner Urteilsbegründung bezeichnete der Richter die NPD-Behauptung “Migration tötet” als Tatsache und prophezeite den “schleichenden Untergang” Deutschlands durch Einwanderung. Den Befangenheitsantrag, den ein Asylsuchender gegen den Richter stellte - er entscheidet in Gießen über Asylverfahren - lehnten seine Kolleginnen und Kollegen am Verwaltungsgericht ab.

Was letztes Jahr wiederum das  Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig einstufte. Die Befangenheitsprüfung sei viel zu oberflächlich, der Kläger damit ohne Richter gewesen, wie er sein sollte: Unbefangen.

Auch die höchsten Richter:innen in Karlsruhe bekommen eins mit im Grundrechtereport 2022: Ihre Entscheidung zur "Bundesnotbremse" im Infektionsschutzgesetz letztes Jahr sei zwar in der Sache akzeptabbel, aber "brandgefährlich" begründet. Karlsruhe stelle kaum Prüfanforderungen an Grundrechtseingriffe, etwa ob sie wirklich unvermeidlich seien. Das lasse Schlimmes erwarten "namentlich auf dem von notorischen Grenzüberschreitungen gekennzeichneten Feld der sogenannten Sicherheitsgesetze".

Im Fall des Richters mit den NPD-Sympathien sieht der Grundrechtereport allerdings nicht mehr Karlsruhe in der Pflicht, sondern die Justiz selbst. "Aus rechtsstaatlicher und demokratischer Sicht kommt es indes vor allem darauf an, wieweit die Kraft der Justiz zur Selbstkontrolle reicht. Denn gegen 'rechte Richter' mit autoritären und rassistischen Einstellungen 'rettet uns kein höh’res Wesen' in Form exekutiver Aufsicht." Gerade Richterinnen und Richter sollten darüber "diskutieren, wie antidemokratischen und völkischen Positionen in der Justiz begegnet werden kann".

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