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Kinder aus armen Familien stehen in den Suppenküchen von Caracas Schlange.

© Henry Romero/REUTERS

Krise in Venezuela: In Zeiten des Mangels

Hyperinflation und Lebensmittelknappheit: In Venezuela wächst zunehmend der Unmut über Präsident Nicolas Maduro. Der will mit allen Mitteln seine Abwahl verhindern.

Samstags im Morgengrauen schultert der Universitätsprofessor Elio Ohep im bürgerlichen Osten von Caracas zwei alte Kartoffelsäcke und macht sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sein Ziel: Der eine Stunde von seiner Wohnung entfernte Großmarkt. „Bis vor ein paar Monaten fuhr ich mit dem Auto, doch das ist kaputt, und es gibt keine Ersatzteile“, seufzt der 68-jährige Marketingexperte.

Venezuela, durch seinen Ölreichtum Jahre des Überflusses und des hemmungslosen Konsums gewöhnt, ist nach 17 Jahren Sozialismus im Mangel angekommen. Die Venezolaner kämpfen mit Güterknappheit und Hyperinflation, mit Strom-und Wassersperren.

Als Ohep auf dem Markt von Quinta Crespo ankommt, ist es noch dunkel. Offiziell öffnet der Markt erst später, aber Ohep schlüpft durch den Hintereingang und versucht, mit den Lieferanten ins Geschäft zu kommen. Bei ihnen ergattert er ein paar Bananen und Zucchini zur Hälfte des Preises, den die Waren drinnen beim Zwischenhändler kosten. Das restliche Obst, Gemüse, ein Huhn, Käse, Ketchup, Eier und Schinken für die vierköpfige Familie muss Ohep aber wohl oder übel bei den Händlern erstehen.

Knapp 30.000 Bolivares hat er für den Wocheneinkauf ausgegeben, ein Viertel seines Monatseinkommens. Andere Maßeinheiten sind bei Hyperinflation und Devisenverkehrskontrollen sinnlos. Zum offiziell festgelegten Wechselkurs entsprechen die 30.000 Bolivares 2700 Euro, auf dem Schwarzmarkt sind es 30 Euro.

Die Kriminalität nimmt stark zu

Bei den heimischen Produzenten käme am wenigsten vom Gewinn an, klagt ein Kaffeebauer, der seine Ernte gezwungenermaßen zu festgesetzten Preisen an den Staat verkaufen muss. Doch dieser ist mit der Bezahlung seit Monaten im Rückstand. Auch Jesus Ramirez stöhnt. Der Lkw-Fahrer lädt begehrtes Milchpulver aus. „Erst gestern haben mir Diebe einen Lieferwagen gestohlen. Einmal haben sie mir Steine auf die Windschutzscheibe geworfen, damit ich anhalte und sie meine Ladung plündern können. Und auch die Nationalgarde findet an den Straßensperren immer einen Vorwand, um mir etwas abzuknöpfen“, beklagt er sich.

Die Kriminalität hat sprunghaft zugenommen in einem Land, in dem der inzwischen verstorbene Präsident Hugo Chavez moralisch rechtfertigte, den Habenden etwas wegzunehmen. Der Staat könne besser und gerechter umverteilen, argumentierte Chavez. Sein Nachfolger Nicolas Maduro, ehemaliger Gewerkschafter der Busfahrer, sieht es genauso. Doch der gefallene Erdölpreis hat dem Petro-Sozialismus seine Grenzen aufgezeigt.

Die in den vergangenen 17 Jahren eingenommenen 300 Milliarden US-Dollar flossen an politische Verbündete wie Kuba und Nicaragua, in Prestigeprojekte oder mussten für Enteignungen ausländischer Firmen gezahlt werden. Investiert wurde wenig, zurückgelegt wurde nichts, und nun reichen die Einnahmen nicht mehr, um gleichzeitig die Staatsschulden zu bedienen, die Sozialprogramme sowie zweieinhalb Millionen Staatsdiener zu unterhalten und genügend Güter zu importieren – trotz chinesischer Milliardenkredite und dem Verkauf von Gold- und Zentralbankreserven.

Für viele geht es ums nackte Überleben

Venezuela führt 70 Prozent seiner Grundbedarfsgüter ein; der Import ist ein staatliches Monopol, kontrolliert von regierungsnahen Militärs und Unternehmern, die Devisen zum Vorzugskurs bekommen. Es ist ein System, das exorbitante Gewinne hervorbringt, vergleichbar mit dem Drogenhandel. Manch einer hat es innerhalb kürzester Zeit zum Millionär gebracht. Die meisten allerdings kämpfen in der Schattenwirtschaft ums nackte Überleben.

Vom „Wirtschaftskrieg der kapitalistischen Unternehmer“ spricht Präsident Maduro, wenn die bürgerliche Presse solche Berichte veröffentlicht oder Fotos von abgemagerten Menschen, die auf Suche nach Essbarem im Müll wühlen. Doch Statistiken des Wirtschaftsinstituts Venebarometro zufolge gibt es nur noch bei vier von zehn venezolanischen Familien täglich drei Mahlzeiten. Und auch die müssen improvisiert werden.

Bei den Oheps kommt mangels Speiseöl nichts Frittiertes mehr auf den Tisch, die Nachbarn haben stattdessen Schweineschmalz aufgetrieben. Frauen brauen ihre Shampoos selbst, Mütter greifen zu Stoffwindeln, um nicht das stundenlange Schlangestehen unter gleißender Tropensonne in Kauf zu nehmen. Was es wo am günstigsten gibt, ist unvermeidliches Thema eines jeden Gesprächs. Auf Twitter haben sich Gruppen Krebs-und Herzkranker organisiert, um lebenswichtige Medikamente aufzutreiben.

Maduros Rückhalt bröckelt

1,5 Millionen Venezolaner haben dem Land in den vergangenen 17 Jahren den Rücken gekehrt. „Chavez wollte die Reichen bekämpfen, letztlich hat er aber der Mittelschicht den Garaus gemacht“, sagt der Biologieprofessor Alex Fergusson. Selbst bei den Armen bröckelt der Rückhalt für die sozialistische Revolution. Umfragen zufolge erhält Maduro nur noch von 20 Prozent seiner Landsleute Unterstützung. Selbst in der regierenden Sozialistischen Einheitspartei machen sich Zerfallserscheinungen breit.

Maduro habe Chavez Erbe und den Sozialismus verraten, erklärte eine Riege von Ex-Ministern und Militärs kürzlich. Ein Abberufungsreferendum sei der einzige demokratische Ausweg aus dieser Krise. Das Plebiszit hätte, sofern es dieses Jahr stattfindet, Neuwahlen zur Folge und würde wohl die Opposition an die Macht bringen. Mit allen Mitteln versucht die Regierung, die dafür nötigen Fristen und Unterschriftensammlungen herauszuzögern. Maduro stützt sich auf das Militär und hofft auf einen Anstieg der Erdölpreise, um sein Modell am Laufen zu halten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

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