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Mit einem Gewehr in der Hand protestiert ein Mann gegen die geplante Offensive des Regimes.

© Ugur Can/DHA/AP/dpa

Krieg in Syrien: Was beim Kampf um Idlib auf dem Spiel steht

In Idlib droht eines der schlimmsten Gefechte des Syrienkriegs. Welche Folgen wird die Schlacht für die Einwohner haben – und was kommt danach?

Noch wird verhandelt, aber die Vorbereitungen für den Angriff laufen. An diesem Montag will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Treffen mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin im russischen Badeort Sotschi versuchen, die Großoffensive auf die syrische Rebellen-Enklave Idlib noch zu verhindern. Experten halten eine Verschiebung des Angriffs für möglich.

Doch dass Russland, der Iran und die syrische Regierung ganz auf die Attacke verzichten, ist kaum zu erwarten. In Idlib geht es für alle Akteure im Syrienkonflikt um eine möglichst günstige Ausgangsposition für eine Neuordnung des Landes nach dem Krieg.

Warum drängt das Regime darauf, Idlib wieder unter Kontrolle zu bekommen?

Für Baschar al Assad ist die Sache klar. Er herrscht über ganz Syrien – ohne Wenn und Aber. Zeitweise musste der Präsident zwar um seine politische Zukunft bangen. Im Herbst 2015 stand der heute 53-Jährige vor einer Niederlage. Doch dann eilte Wladimir Putin seinem Schützling zu Hilfe.

Das war der Wendepunkt. So ist es Assad mit tatkräftiger Unterstützung aus Russland und dem Iran gelungen, weite Teile des Landes zurückzuerobern. Nun ist nur noch Idlib übrig. Der Diktator will unbedingt den dortigen Widerstand brechen. All seinen Gegnern soll deutlich gemacht werden, was ihnen droht, wenn sie sich gegen ihn erheben.

Dass Idlib eigentlich eine „Deeskalationszone“ ist, in der die Waffen ruhen sollen, kümmert Assad wenig. In der Vergangenheit hat er bereits mehrfach derartige Gebiete rücksichtslos angreifen lassen. Stets mussten die Aufständischen aufgeben. Auch im Fall von Idlib steht außer Frage, dass die Regime-Einheiten siegen werden. Damit wäre der verheerende Krieg in Syrien entschieden.

Kein Wunder, dass einige der berüchtigsten Einheiten der Militärs in der Nähe der Provinz Stellung bezogen. Die Republikanische Garde und die Vierte Panzerdivision unter dem Befehl von Maher al Assad, dem Bruder des syrischen Präsidenten, warten auf den Einsatzbefehl. Auch die „Tiger-Truppe“ des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Suheil al Hassan ist in der Gegend aufgefahren. Dass die Regierung diese für ihre Brutalität bekannten Eliteeinheiten aufbietet, zeigt die Bedeutung von Idlib für die Führung in Damaskus.

Aus welchen Gründen unterstützen Russland und der Iran den Vormarsch?

Moskau steht seit drei Jahren fest an der Seite seines syrischen Verbündeten. Russische Kampfjets, Söldner und Militärberater gehören bis heute zu den wichtigsten Stützen des Vormarschs von Assads Einheiten. Putin hat viel investiert, um in Syrien ein gewichtiges Wort mitreden zu können. Jetzt soll in Idlib der Schlusspunkt gesetzt werden.

Moskau vertritt ohnehin die gleiche Position wie Damaskus: Es gehe darum, ganz Syrien von „Terroristen“ zu säubern. Damit tue man der ganzen Welt einen Gefallen. Unter diese Definition fallen alle Oppositionskräfte – militante Islamisten, gemäßigtere Rebellen, Vertreter der Zivilgesellschaft und die vielen Syrer, die keinesfalls unter einem Diktator namens Assad leben wollen.

Schutz im Untergrund. Idlibs Einwohner rechnen fest mit einem baldigen Angriff des Regimes.
Schutz im Untergrund. Idlibs Einwohner rechnen fest mit einem baldigen Angriff des Regimes.

© Omar Haj Kadour/AFP

Idlib ist für Russland aber auch von besonderem Interesse. Dort haben sich nämlich einige Tausend Dschihadisten aus Tschetschenien verschanzt. Moskau will auf jeden Fall verhindern, dass sie in ihre Heimat zurückkehren.

Assad kann in der Schlacht um Idlib auch fest auf Teheran zählen. Seit dem Beginn des Aufstands im Jahr 2011 gehört der schiitische Iran zu Getreuen des syrischen Regimes. Die Mullahs lassen sich den Krieg in Syrien einiges kosten. Abermillionen wurden bereits ausgegeben – sehr zum Leidwesen der iranischen Bevölkerung, die das Geld lieber der daniederliegenden heimischen Wirtschaft zugutekommen lassen würde.

Doch dieser Protest wird die Herrschenden nicht davon abhalten, ihre Position in Syrien zu festigen. Denn dem Land kommt in Teherans strategischen Überlegungen eine erhebliche Bedeutung zu. Zum einen sichert sich der Iran damit einen Zugang zum Mittelmeer.

Zum anderen entsteht auf syrischem Boden ein Landkorridor, über den die Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon mit Waffen versorgt werden soll. Für Israel als Irans Erzfeind, ist das eine Horrorvorstellung. Seit Jahren greift deshalb die Armee des jüdischen Staats iranische Stellungen in Syrien an.

Wie reagiert die Türkei?

Ankara befürchtet einen Flüchtlingsansturm aus Idlib und sorgt sich um den eigenen Einfluss in Syrien. Deshalb setzt Erdogan alles daran, die erwartete Offensive doch noch zu verhindern. Seine Regierung schlägt vor, gemäßigte Rebellen und Hardliner wie die Kämpfer der Dschihadisten-Gruppe Hayat Tahrir al Scham (HTS) voneinander zu trennen.

Die HTS steht der Terrororganisation Al Qaida nahe und kontrolliert große Teile von Idlib. Die Türkei will das rund 10.000 Mann starke Islamistenbündnis Berichten zufolge in den Norden von Idlib oder in türkisch kontrollierte Gebiete in Nord-Syrien wie Afrin verlegen und damit neutralisieren.

Wenn das gelingt, wäre die Präsenz mehrerer Zehntausend Ankaratreuer Rebellen in Idlib gesichert, was für die Türkei wichtig ist, um bei den Entscheidungen über die Zukunft Syriens mitreden zu können. Allerdings steht Ankaras Plan im klaren Widerspruch zu Russlands Interessen, der wichtigsten Macht im Syrienkonflikt.

Die Einnahme von Idlib sei für Putin nicht verhandelbar, sagt Kerim Has, Experte für die russischtürkischen Beziehungen. Der Aufschub werde den Beginn des Großangriffs höchstens um einige Wochen verzögern.

Wie groß wird der Widerstand sein?

Erheblich. In Idlib bereiten sich schätzungsweise 70.000 erfahrene und gut ausgerüstete Kämpfer auf ihre wohl letzte große Schlacht vor. Zu der dischadistischen HTS kommen noch mehrere Tausend ausländische „Gotteskrieger“. Zumeist sind es Tschetschenen, Uiguren und Usbeken, die seit Jahren in Syrien ihren „heiligen Krieg“ führen.

Doch jetzt gibt es für sie keine Ausweichmöglichkeit mehr. Die militanten Kämpfer sind eingeschlossen. Nach Hause zurückkehren können sie ebenfalls nicht. Für sie ist Idlib daher ein Kampf auf Leben und Tod. Und sie scheuen sich nicht, die Einwohner in Geiselhaft zu nehmen. Idlibs Zivilisten befinden sich somit zwischen den Fronten. Also in einer Todesfalle.

Die Grenze zur Türkei ist für Flüchtlinge geschlossen. Sie müssen auf syrischer Seite ausharren.
Die Grenze zur Türkei ist für Flüchtlinge geschlossen. Sie müssen auf syrischer Seite ausharren.

© Osman Orsal/Reuters

Was bedeutet das für die Zivilbevölkerung?

Mehrere Zehntausend Menschen sind bereits auf der Flucht, weil sie fest mit einem baldigen Beginn der Kämpfe rechnen. Viele von ihnen suchen an der geschlossenen türkischen Grenze oder in der Nähe türkischer Beobachtungsposten Schutz. In die von der syrischen Regierung beherrschten Gebiete des Landes will kaum jemand zurückkehren.

Schließlich waren rund 1,5 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens vor Assads Truppen nach Idlib geflohen. Manche Zivilisten setzen darauf, dass sich die Oppositionsgruppen erfolgreich gegen die erwartete Großoffensive wehren können.

Welche anderen Möglichkeiten haben Idlibs Einwohner?

Leider nur wenige. Drei Millionen Menschen leben in der Provinz. Ein Drittel der Einwohner sind Kinder. Und die Erfahrung aus Feldzügen gegen andere Rebellen-Hochburgen in Syrien zeigt, dass die russische Luftwaffe, die syrische Armee und die iranischen Einheiten kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen. So wurden immer wieder Kliniken und Schulen gezielt unter Feuer genommen. Dabei kamen Fassbomben, Bunkerbrecher und Giftgas zum Einsatz.

Die UN warnen deshalb vor einer humanitären Katastrophe und bitten die Türkei, die Grenze zu öffnen, um die Schutzsuchenden ins Land zu lassen – die Vereinten Nationen rechnen mit bis zu 900000 Schutzsuchenden. Ankara will jedoch die Grenze nicht öffnen und erwägt die Unterbringung von Flüchtlingen auf syrischem Boden in der Region um die Städte Afrin und Azaz nordöstlich von Idlib.

Was passiert nach der Schlacht?

Assad wird an der Macht bleiben – trotz der vielen Kriegsverbrechen, die ihm zur Last gelegt werden. Und er hat mehrfach klargemacht, dass eine Versöhnung mit seinen Gegnern für ihn nicht in Frage kommt. Die Millionen Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen haben, werden sich also genau überlegen, ob sie zurückkehren wollen.

Dennoch richtet sich die Aufmerksamkeit der Akteure schon jetzt auf eine Nachkriegsordnung und den Wiederaufbau des zerstörten Landes. Dabei wollen viele mitreden – nicht nur Assad und seine Verbündeten Russland und Iran sowie die syrischen Kurden, sondern ebenfalls die Vereinten Nationen, die Türkei, die USA und einige arabische Staaten.

Vor allem der Kreml drückt aufs Tempo. Moskau will die rasche Rückkehr der Flüchtlinge ermöglichen und fordert vom Westen finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau. Der wird Schätzungen zufolge bis zu 400 Milliarden Dollar kosten.

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