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60 Kinder besuchen die Dorfschule in der Ortschaft Krasnohoriwka in der Ostukraine.

© Archivfoto: ddp/abaca press

Krieg im Donbass: In der Ostukraine wächst neue Hoffnung auf Frieden

Am Rande der Ostukraine sind die Menschen längst Spielball der Mächtigen. Doch viele Bewohner der Region nehmen nun ihre Zukunft selbst in die Hand. Ein Besuch.

Von Oliver Bilger

Manchmal sind die Spuren des Krieges augenfällig wie die Abdrücke der Panzerketten, die sich auf der alten Schnellstraße nach Donezk in den Asphalt gepresst haben. Andere bleiben zunächst verborgen wie die Ernüchterung Ljudmila Stepanowna Pawljuks.

Im kleinen, spärlich eingerichteten Büro der Ortsvorsteherin von Krasnohoriwka hängen Ikonen an der Wand und zwei blau-gelbe Flaggen der Ukraine. Pawljuk, 65 Jahre alt, trägt ihr schwarzes Haar toupiert, um die müden Augen ziehen sich Falten. Sie sagt: „Wir kämpfen ums Überleben. Keiner weiß, wie es weitergeht.“

Sie fühlt sich alleingelassen mit ihren Sorgen. „Wir lächeln nicht mehr.“

Es herrscht noch immer Krieg in der Ostukraine, inzwischen im sechsten Jahr. Kleinere Scharmützel haben die großen Gefechte abgelöst. Die ukrainische Armee kämpft gegen von Russland unterstützte Separatisten, die im April 2014 in der Region Donezk und im benachbarten Luhansk „Volksrepubliken“ ausriefen.

 „Wir lächeln nicht mehr“, sagt Ljudmila Pawljuk, Ortsvorsteherin des Dorfes Krasnohoriwka im Donbass.
 „Wir lächeln nicht mehr“, sagt Ljudmila Pawljuk, Ortsvorsteherin des Dorfes Krasnohoriwka im Donbass.

© Oliver Bilger

Heute trennt die Landesteile etwas, das hier offiziell „Kontaktlinie“ genannt wird: 450 Kilometer lang, an vielen Stellen noch immer Front, immer eine Grenze. Auf der Seite, die unter ukrainischer Kontrolle steht, leben die Menschen in einem Niemandsland, abgehängt vom Rest des Landes.

Trümmer und Einschusslöcher in der Ostukraine

Krasnohoriwka ist ein Dorf mit 550 Einwohnern in der „Grauen Zone“, fünf Kilometer entfernt von der Kontaktlinie. In der Ferne ragen Schornsteine und Abraum in den Himmel, knapp 20 Kilometer Luftlinie sind es bis in die Vororte der Industriestadt Donezk. Ein Örtchen mit zweigeschossigen Backsteinbauten, geduckten Häusern hinter hohen Zäunen, in den Gärten liegen geerntete Kürbisse.

Es gibt schlechte Straßen und ein Weltkriegsdenkmal in der Dorfmitte und verlassene Häuser, ein Kulturzentrum, das zum Teil in Trümmern liegt, Einschusslöcher an Fassaden, und Zäune, die von Projektilen und Granatsplittern durchbohrt sind.

Fassaden und Zäune in Krasnohoriwka sind von Projektilen und Granatsplittern durchbohrt.
Fassaden und Zäune in Krasnohoriwka sind von Projektilen und Granatsplittern durchbohrt.

© Oliver Bilger

129 Häuser sind in Krasnohoriwka beschädigt worden, das weiß Ortsvorsteherin Pawljuk genau, ihr eigenes Haus ebenfalls. An Außenwänden und Balkonen einiger Gebäude im Ort ist der frische Putz zu erkennen, mit dem Schäden ausgebessert wurden.

Fast 13.000 Menschen sind dem Konflikt bislang zum Opfer gefallen, mehr als 30.000 wurden verletzt. Eineinhalb Millionen Menschen haben die Region verlassen. Der im Ferbruar 2015 ausgehandelte Waffenstillstand ist immer brüchig gewesen. In ihren täglichen Berichten listet die OSZE-Beobachtermission noch immer hunderte Verstöße gegen die Waffenruhe auf.

Selenskyj hat der Ukraine Frieden versprochen

Wolodymyr Selenskyj, der neue Präsident der Ukraine, hat seinem Land Frieden versprochen und dringt auf neue Gespräche, innerhalb derer sich die Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich um eine Lösung bemühen können. Vor wenigen Tagen haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin telefonisch die Möglichkeit eines Vierer-Treffens ausgelotet.

Anfang September gab es einen vielbeachteten Gefangenenaustausch mit Russland. Und am Dienstag dieser Woche zogen beide Seiten Truppen an der Kontaktlinie im Luhansker Gebiet ab. Russland hatte dies zur Bedingung für Vierergipfel gemacht.

Der tiefer liegende Grund für den Rückzug könnte sein: Der Ukraine-Krieg ist teuer, Moskau geht das Geld aus, die Wirtschaft schwächelt. Und im Kreml scheint jene Strömung mittlerweile an Macht gewonnen zu haben, die zwar so viel Autonomie für die Ostukraine anstrebt wie möglich – fixiert in einer veränderten ukrainischen Verfassung –, dann aber eine Entmilitarisierung dort anstrebt. Moskau will den Konflikt loswerden, aber so viel Einfluss wie möglich behalten.

In Krasnohoriwka Armut und fehlende Perspektiven

In Krasnohoriwka hat sich der Krieg verzogen, seit zwei Jahren ist in Dorfnähe nicht mehr geschossen worden. Trotzdem fürchten einige Bewohner, dass die Gewalt zurückkehren könnte. Bis in den Sommer 2017 habe es jeden Tag Angriffe gegeben, sagt Walentina Skliarowa. Sie ist seit knapp 40 Jahren Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Dorfschule, ein grauer, kastenförmiger Bau, den etwa 60 Kinder besuchen.

Sie erzählt, wie sie die Angriffe aus dem Fenster ihrer Wohnung habe sehen können – „jeden Tag“. Mit der Zeit habe sie sich so sehr an die Kämpfe gewöhnt, dass sie es als ungewöhnlich empfunden habe, wenn nicht geschossen wurde.

2015 sei die Schule von Geschossen getroffen worden, ebenso der Bolzplatz davor. Die Schäden sind noch immer an den Backsteinwänden zu sehen. Die zerstörten Fenster wurden erst nach zwei Jahren ersetzt. Der Unterricht ging trotzdem weiter, im Winter zogen die Schüler in andere Räume.

Im Notfall wussten sie, wie sie sich zu verhalten haben: ab ins Treppenhaus, das im Gebäude den einzigen Schutz bietet.

„Die Welt hat keine Vorstellung, was hier geschieht, das wissen nur wir“, sagt Skliarowa, die sich vergessen fühlt, weil der Krieg immer weniger Aufmerksamkeit findet. Sie steht im Klassenzimmer, an der Wand ein buntes Alphabet-Poster und eine Zeichnung, die Goethe zeigt. Erst gab es nichts als Angst und Gewalt, nun dominieren Armut und fehlende Perspektiven. Skliarowa sagt, es drehe sich doch alles nur um die Interessen ein paar weniger – und ums Geschäft im reichen Kohlerevier Donbass.

„Die Welt hat keine Vorstellung, was hier geschieht“, sagt Walentina Skliarowa, Lehrerin in Krasnohoriwka.
„Die Welt hat keine Vorstellung, was hier geschieht“, sagt Walentina Skliarowa, Lehrerin in Krasnohoriwka.

© Oliver Bilger

Sie habe in ihrer Wohnung ausgeharrt, auch als die Fenster längst geborsten waren, es kein Gas mehr gab. Wurde in der Nacht geschossen, sei sie in den Keller gegangen. „Man kann in dieser Situation nur mit Gott leben“, sagt Skliarowa, „wenn plötzlich die Bomben fallen.“ Trotzdem habe sie nie überlegt, ihre Heimat zu verlassen. „Wir Lehrer sind alle geblieben“, sagt sie und klingt ein bisschen stolz.

In der Ostukraine sind viele auf Hilfe angewiesen

Ein Drittel der Bewohner hat den Ort verlassen, in Dörfern wie Krasnohoriwka gibt es kaum noch Ärzte, medizinische Einrichtungen und Geräte wurden zu großen Teilen zerstört. Kinder bleiben umgeimpft, Krebspatienten können nicht behandelt werden. Viele Ältere leiden an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes. Es mangelt an Medikamenten, mobile Kliniken erreichen die Dörfer nur zeitweise und bieten nur das Nötigste.

Viele Menschen sind außerdem auf Lebensmittellieferungen von Hilfsorganisationen angewiesen. Wer kann, versorgt sich selbst: mit Gemüse aus dem Garten und Milch von eigenen Kühen, selbstgebackenem Brot. In Krasnohoriwka gab es bis in den Oktober vergangenen Jahres kein dauerhaft fließendes Wasser, Pumpen sind beim Beschuss beschädigt und ein Wasserturm zerstört worden. Früher gab es Arbeit in der Landwirtschaft und im Bergbau. Heute sind viele Gruben geschlossen und Felder vermint. Donezk, die Regionalhauptstadt, ist nur beschwerlich zu erreichen.

Die Bewohner der Ostukraine wollen dem Stillstand entgegenwirken

In den vergangenen Jahren haben die Menschen hier Unterstützung aus dem Ausland erhalten, Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und aus anderen Ländern sind aktiv, um die Lebensbedingungen in der „Grauen Zone“ ein wenig zu verbessern. Ohne die fremde Hilfe, sagen Einwohner, wäre das Leben noch schwieriger.

Inzwischen aber wollen sie nicht länger einfach nur auf eine Zukunft warten, die sich nicht für sie interessiert. Einige Bewohner wollen dem Stillstand entgegenwirken.

In Krasnohoriwka hatte die Dresdner Hilfsorganisation Arche Nova, spezialisiert auf Wasser- und Hygieneversorgung in Krisengebieten, geholfen, die zerstörten Wasserpumpen zu reparieren. Die Organisation half auch, die Schultoiletten zu erneuern. Die Hilfe der Dresdner läuft zum Jahresende aus, doch ukrainische Mitarbeiter wollen die Arbeit fortführen.

„Wir machen nicht die Arbeit der Regierung“

„Es gibt weiterhin humanitäre Bedürfnisse“, sagt Dmytro Drischd. Er wird die Arbeit seiner sieben Kollegen künftig leiten. Der 42-Jährige stammt aus Donezk, er ist 2016 aus seiner Heimatstadt geflohen. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „choose a side“.

„Es gibt weiterhin humanitäre Bedürfnisse“, sagt Dmytro Drischd, der künftig eine Hilfsorganisation in der Ostukraine leitet. 
„Es gibt weiterhin humanitäre Bedürfnisse“, sagt Dmytro Drischd, der künftig eine Hilfsorganisation in der Ostukraine leitet. 

© Oliver Bilger

In den ersten zwei Jahren des Krieges habe er, wie viele andere Bewohner der Region, gewartet, sagt er. In dieser Zeit sei die Ostukraine „wie eingefroren“ gewesen, politisch und wirtschaftlich. Dann habe er gemerkt, dass dies „nicht auf ewig so bleiben“ könne. „Es ist sinnlos zu warten, dass ein anderer die Lage verbessert. Es geht um unser Leben.“ Doch Drischd sagt auch: „Aber wir machen nicht die Arbeit, die unsere Regierung machen muss.“ Die Staatsführung solle nicht das Gefühl bekommen, sich nicht kümmern zu müssen.

Er sagt: „Die Menschen verbinden mit der neuen Regierung vor allem: Hoffnung.

„Kinder wissen, wie Bomben klingen“

Etwa 30 Kilometer nördlich von Krasnohoriwka liegt Torezk, eine Stadt mit knapp 36.000 Einwohnern. Besuch in einem Kindergarten. Hinter einer schweren Eingangstür warnt ein Plakat mit Fotos vor Minen und herumliegender Munition. Immer wieder sprechen die Betreuerinnen mit den 145 Kindern darüber, damit sie irgendwo gefundene Gegenstände nicht für Spielzeug halten.

Viktoria Triputen, die Leiterin des Kindergartens, rotes Kleid, kurzes braunes Haar, ist froh, dass auch in Torezk nicht mehr geschossen wird. Sie hofft, „dass Leute zurückkehren, die im Krieg geflohen sind“. Dass sie neue Arbeit finden, in den Bergwerken, die – so ihre Hoffnung – wiedereröffnen könnten.

„Die Kinder wissen, wie Bomben klingen“, sagt Triputen. „Sie haben sogar Angst, wenn sie ein Feuerwerk hören.“ Triputen fürchtet, dass bei vielen ein Trauma zurückbleiben wird.

Soldaten kontrollieren an Checkpoints

Es wird, wenn irgendwann vielleicht echter Frieden einkehrt, viel zu tun geben in der „Grauen Zone“, in Torezk, in Krasnohoriwka. Dort hoffen die Bewohner zum Beispiel auch, dass „die Straßen wieder öffnen und uns mit Donezk verbinden“, sagt Ortsvorsteherin Ljudmila Stepanowna Pawljuk.

Die Verbindungsstraße ist kaum mehr befahren, Bushaltestellen sind verwaist. An Checkpoints mit Panzersperren kontrollieren ukrainische Soldaten mit Automatikwaffen jeden Reisenden. Der letzte Posten vor dem Dorf befindet sich neben einer zerstörten Eisenbahnbrücke. Über den Trümmern weht die Landesflagge im Wind.

Die Reise in die Ukraine fand auf Einladung der Organisation Arche Nova statt.

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