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Im Notfall muss es schnell gehen. Doch in den Notaufnahmen der Krankenhäusern drängen sich immer mehr Patienten mit Bagatellerkrankungen.

© dpa

Krankenhäuser: Krankenkassen und Ärzte warnen vor verstopften Notaufnahmen

Immer mehr Patienten lassen sich wegen Bagatellen im Krankenhaus behandeln. Die Rettungsstellen sind überfüllt. Für echte Notfälle kann das gefährlich werden.

Wer sich in die Notaufnahme eines Krankenhauses begibt, muss viel Geduld mitbringen. Denn immer mehr Patienten nutzen diese Möglichkeit auch als Erstanlaufstelle für Bagatellerkrankungen. Für die Kliniken rechnet sich das nicht. Und für echte Notfälle kann das Gedränge gefährlich werden, weil sich die Behandlung dadurch womöglich verzögert. Die Krankenkassen drängen daher auf Reformen.

Wie groß ist das Problem?

Nach Angaben des Ersatzkassenverbandes VdEK landen jährlich bis zu 25 Millionen Fälle in den Klinik-Notaufnahmen. Tendenz steigend – und zwar um vier bis neun Prozent pro Jahr. Nur durch den demografischen Wandel und höhere Erkrankungszahlen lässt sich das nicht erklären. Wohl aber durch den Blick auf die Art der Erkrankungen: Bei bis zu zwei von drei Patienten in Notaufnahmen reiche eine rein ambulante Betreuung, sagte Joachim Szecseny vom Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (Aqua), das dazu eine aktuelle Studie erstellt hat.

Für 2013 ergab eine Klinikbefragung durch die Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, dass nur 10 bis 20 Prozent der Notaufnahme-Patienten lebensbedrohlich erkrankt waren. Der Rest: Bagatellerkrankungen oder Fälle, die zwar akut sind, sich aber auch ambulant versorgen lassen. Dadurch würden die Ressourcen der Notaufnahmen unnötig gebunden, heißt es in der Aqua-Studie, die am Dienstag in Berlin präsentiert wurde. Dies sei "problematisch, wenn dadurch eine zeitnahe und notwendige Behandlung von schwer oder sogar lebensbedrohlich erkrankten Patienten gefährdet wird.

Für die Kliniken sind ambulante Behandlungen in der Notaufnahme ein Minusgeschäft. Pro Notfallpatient erhalte man im Schnitt 32 Euro, rechnet der Katholische Krankenhausverband vor. Die reellen Kosten beliefen sich aber auf 126 Euro. Um Haftungsrisiken auszuschließen, würden in den Notaufnahmen dennoch auch bei Bagatellerkrankungen "die diagnostischen Möglichkeiten häufig ausgeschöpft", so das Gutachten. Dies könne dann den "Fehlanreiz fördern, ambulante Notfallpatienten stationär aufzunehmen".

Warum verstopfen immer mehr Patienten mit Bagatellerkrankungen die Notaufnahmen?

Die Studie nennt eine Vielzahl von Gründen. Viele kämen in die Notaufnahme, weil ihnen gar nicht bekannt sei, dass es auch ärztliche Notdienste gibt. Andere fühlten sich im Krankenhaus besser aufgehoben – wegen schnellerer Diagnosemöglichkeiten und der Vielzahl fachärztlicher Disziplinen. Oft passten die Öffnungszeiten von Notdienstpraxen nicht mit den sprechstundenfreien Zeiten einer Region zusammen.

Insbesondere jüngere Patienten hätten immer seltener einen festen Hausarzt. Und Menschen, die noch nicht lang in Deutschland lebten, fehle oft das Wissen über hiesige Versorgungsstrukturen. In den Heimatländern der meisten Flüchtlinge beispielsweise gibt es kein vergleichbares Gesundheitswesen und keine soliden, flächendeckend verteilten Arztpraxen. Wer medizinische Hilfe braucht, geht auch mit Kleinigkeiten in eine Klinik.

Viele Patienten, so Aqua-Chef Szecsenyi, hätten auch die Erwartungshaltung, dass ihnen bei jedem Zipperlein sogleich umfassend und mit ausgewiesener Qualifikation geholfen werden müsse. Dazu komme fehlendes Wissen. „Früher hat die Oma einem fiebernden Kind Wadenwickel gemacht. Heute weiß kaum einer mehr, wie das funktioniert.“

Wie ist die Situation in Berlin?

In den mehr als 30 Rettungsstellen der Hauptstadt werden pro Jahr 1,2 Millionen Fälle behandelt – Tendenz ebenfalls steigend. Und Berlin wächst. Hinzu kommt: In der Hauptstadt leben überdurchschnittlich viele Erwerbslose und Einwanderer. Die Quote derer, die keine Notfälle sind, aber dennoch in Kliniken auflaufen, gilt in Berlin deshalb als besonders hoch.

Einer Schätzung der Senatsgesundheitsverwaltung zufolge mussten bis zu 70 Prozent der in Notaufnahmen Behandelten nur ambulant versorgt werden. Allerdings ist die Klinikdichte in Berlin mit rund 60 Häusern auch recht hoch – weshalb viele Patienten es nicht einsehen, in einer Arztpraxis länger auf einen Termin zu warten, sondern in einer Rettungsstelle um die Ecke auf sofortige Behandlung drängen.

Zudem wissen offenbar viele Berliner nicht, wie sie an Wochenenden, nachts und feiertags eine Praxis erreichen. Die Hotline der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) unterscheidet sich von der bundesweiten Notdienstnummer 116117, sie lautet 310031 – was die Sache für die Patienten nicht einfacher macht. Und Medizinern zufolge rücken insbesondere in Neukölln, Kreuzberg und Mitte oft ganze Familien in Kliniken an, wenn sich ein Angehöriger krank fühle.

Vor allem in arabischen Ländern sei es üblich, dass die Familie den Patienten begleitet, sagen Ärzte. Mitunter werde das Personal auch bedroht, wenn der Angehörige nicht flott genug behandelt werde. Zu niedergelassenen Ärzten, deren begrenzte Sprechstunden Spontanbesuche erschweren, gingen solche Familien eher selten.

Wie wollen die Krankenkassen die Notfallversorgung verbessern?

Die Ersatzkassen fordern, dass an jeder der 1600 Kliniken mit Notfallversorgung sogenannte Portalpraxen eingerichtet werden, die rund um die Uhr geöffnet sind. Diese könnten als Erstanlaufstellen für alle Patienten fungieren und hätten die Aufgabe, diese zu kategorisieren: in akute Fälle für die Notaufnahme, Akutfälle für ambulante Behandlung und weniger dringliche Fälle. Letztere könnten tagsüber dann auch an normale Arztpraxen vermittelt werden. Die Idee mit den Portalpraxen steht bereits im Gesetz, allerdings handelt es sich um eine Soll- und keine Muss-Vorschrift.

Stattdessen haben die meisten KVen aufgrund von Problemen bei der Besetzung des ärztlichen Notdienstes spezielle Notdienstpraxen mit festem Standort eingerichtet, oft auch direkt bei Kliniken. 600 gibt es davon inzwischen, ihre Dichte in den östlichen Ländern ist allerdings weit geringer als im Westen.

Diese Praxen könnten aus Kassensicht für akute Fälle ohne Klinikeinweisung weiter bestehen bleiben und sich mit den Portalpraxen verzahnen. Gleichzeitig müsse die Qualifikation des Personals in der Notfallversorgung verbessert werden. Wichtig sei zudem, dass die Leitstellen der KVen und die Rettungsdienste nicht länger nebeneinanderher agierten, sondern gemeinsam arbeiteten.

Anrufe für den ärztlichen Bereitschaftsdienst müssten bei Lebensgefahr an den Rettungsdienst weitergeleitet werden. Umgekehrt seien Anrufe unter dem Notruf 112 an den ärztlichen Notdienst weiterzuleiten, wenn eine Behandlung durch diesen reiche. „Wir brauchen transparentere Strukturen in der Notfallversorgung“, sagt VdEK-Chefin Ulrike Elsner. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft dagegen verweist auf die Kosten. „Wer die Notfallversorgung wirklich verbessern will, muss auch die Finanzierung sichern“, fordert Hauptgeschäftsführer Georg Baum.

Was wird speziell in der Hauptstadt getan?

Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) und viele Klinikchefs fordern, dass mehr Praxisärzte am Wochenende öffnen und sich auch aktiver als Notfallhilfe verpflichten. Im August öffnete in Berlin die erste Notfallpraxis am Unfallkrankenhaus Marzahn. Nach längerem Streit zwischen Czaja und der KV soll es nun bis zu acht weitere solcher Notfallpraxen an Berliner Kliniken geben. Bundesweites Aufsehen hat die erstmals in Berlin eingeführte Zusatzqualifizierung als Notfall- und Akutmediziner in Rettungsstellen erregt, die Mediziner sollen dabei zum Spezialisten für den Überblick werden. Bislang hängt einiges auch davon ab, wer in der Notaufnahme gerade Dienst hat, oft sind es Internisten, Chirurgen oder Neurologen. Wolfgang Albers, Gesundheitspolitiker der Linken und ehemals Arzt in den Vivantes-Kliniken, fordert grundsätzlich eine Vorhaltepauschale für die Rettungsstellen, sie gehörten zur öffentlichen Daseinsfürsorge. Da ambulante Versorgung nicht nur in Praxen stattfinde, müssten die Kliniken dafür auch ausreichend bezahlt werden. Will heißen: Das Budget für niedergelassene Ärzte würde kleiner, das für die Krankenhäuser größer. Auch aus der Berliner CDU heißt es, man wolle mehr Druck auf die Kassenärzte machen. Laut Gesetz habe die KV die ambulante Versorgung sicherzustellen. Das müsse durchgesetzt werden.

Einen Kommentar zum Thema finden Sie hier. Infos zu Kliniken und Praxen gibt es auch im Tagesspiegel-Portal: www.gesundheitsberater-berlin.de

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