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Sanitäter vom Bundeswehr Rettungsdienst bringen die Spezialtrage, mit der Nawalny in die Charité eingeliefert wurde, zurück in den Krankenwagen.

© dpa/Kay Nietfeld

Krämpfe, Atemprobleme, Herzversagen: Was man über den womöglich bei Nawalny eingesetzten Giftstoff weiß

Leicht nachzuweisen, hemmt die Reizübertragung der Nerven: Was über den beim Kremlkritiker Nawalny möglicherweise verwendeten Giftstoff bisher bekannt ist.

Die Antwort aus Moskau fiel eher uneindeutig aus. Die Berliner Charité hatte am Montag öffentlich gemacht, dass es bei dem russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny klinische Hinweise auf eine Vergiftung gebe. Das gehe aus den klinischen Befunden hervor. „Wir verstehen nicht, warum es unsere deutschen Kollegen so eilig haben, das Wort ,Vergiftung‘ zu verwenden“, sagte der Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag in Moskau.

Einerseits ist es aus Sicht des Kremls also zu früh, zu einem solchen Befund zu kommen. Andererseits betonte der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Diese Version war eine der ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen haben.“ Die medizinische Analyse der deutschen Ärzte stimme „absolut mit unserer überein, aber die Schlussfolgerungen sind unterschiedlich“.

Ärzte in dem Krankenhaus in der russischen Stadt Omsk, wo Nawalny zuerst behandelt worden war, hatten in der vergangenen Woche betont, bei den Untersuchungen sei kein Gift nachgewiesen worden. Der Oppositionspolitiker leide an einer Stoffwechselstörung, ausgelöst durch zu niedrigen Blutzucker.

Die Charité konnte zwar bisher nicht die Substanz identifizieren, mit der Nawalny vergiftet wurde, aber die entsprechende Wirkstoffgruppe identifizieren. „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin“, teilte die Charité mit.

In der Charité (hinten) wird Nawalny behandelt, im Bundeskanzleramt (vorne) werden die diplomatischen Kanäle genutzt.
In der Charité (hinten) wird Nawalny behandelt, im Bundeskanzleramt (vorne) werden die diplomatischen Kanäle genutzt.

© Christoph Soeder/dpa

Cholinesterase ist ein Enzym, das der Körper braucht, um eine sehr wichtige Substanz bearbeiten zu können: das Acetylcholin. Es ist vor allem für die Übertragung von Signalen von Nerven- zu anderen Nervenzellen, aber auch zu Muskelzellen nötig und wird von der Cholinesterase nach jedem übertragenen Reiz gewissermaßen „reaktiviert“. Wird das Enzym an dieser Aufgabe gehindert, weil es durch Hemmstoffe (Cholinesterase-Hemmer) blockiert wird, dann funktioniert die Reizübertragung nicht mehr – die Muskeln krampfen, was bei Befall der Atem- oder Herzmuskulatur bis zum Tod führen kann.

Nachweisen lässt sich die Hemmung der Enzyme vergleichsweise einfach, indem man die Cholinesterase-Enzyme, vorzugsweise jene im Blutplasma, auf ihre Aktivität hin testet. Funktionieren sie nicht mehr oder kaum noch, müssen sie gehemmt worden sein.

Erste Symptome sind verkleinert Pupillen, Schwitzen oder Krämpfe

Noch haben die Experten an der Charité die Substanz zwar nicht identifiziert. Doch die infrage kommenden Substanzen seien „sehr gut nachweisbar, auch Tage und Wochen nach der Vergiftung“, sagt Thomas Hartung, Toxikologe an der Johns Hopkins Universität. „Wir werden bald wissen, welche Substanz verwendet wurde.“

Zu den Stoffen, die Cholinesterasen hemmen können, gehören „die wichtigsten chemischen Kampfstoffe – Nervengase wie Sarin, VX, Soman, Tabu, Cyclosarin – aber auch bestimmte Pestizide – E605, Chlorpyrifos“, sagt Hartung. Man kenne sich damit sehr gut aus.

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Erste Symptome der Opfer sind in der Regel verkleinerte Pupillen, erhöhter Speichelfluss und starkes Schwitzen, Spasmen, Krämpfe, Lähmungen, Atemprobleme und schließlich Herzversagen – je nachdem, wie das Gift in den Körper gelangt. „Die Aussichten der Behandlung hängen davon ab, wie viel von welcher Substanz verabreicht wurde und wie schnell die richtige Therapie eingeleitet wurde“, sagt Hartung.

Der Forscher weist darauf hin, dass zu derselben Wirkstoffgruppe, aus der sich die Attentäter beim Anschlag auf Nawalny bedienten, auch der Kampfstoff Nowitschok gehört. Mit diesem Nervengift war 2018 der russische Ex-Spion Sergej Skripal in Großbritannien vergiftet worden. „Ich habe damals gesagt, die Russen hätten auch eine Visitenkarte am Tatort liegen lassen können, da die Substanzen so klar zugeordnet werden können.“ (mit smc)

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