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Zehntausende wollen sich vor dem Krieg in der Ukraine nach Polen in Sicherheit bringen. Hier warten Flüchtlinge am Grenzübergang Medyka auf den Transport in Notquartiere in der polnischen Stadt Przemysl.

© Bryan Woolston/REUTERS

Korrektur der Migrationspolitik von 2015?: Für Polen ist der Kurs nur konsequent

Polen und Ungarn nehmen die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen auf. Das sorgt für Verwunderung. Dabei hilft ein genauer Blick. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Hunderttausende sind bereits auf der Flucht aus den Kriegsgebieten in der Ukraine. Mehrere Millionen Menschen werden ihre Heimat wohl in den nächsten Wochen verlassen müssen. Sie flüchten über die Grenze in die nächsten Nachbarstaaten: Polen, Ungarn, die Slowakei, Rumänien.

Dort werden sie mit großer Hilfsbereitschaft aufgenommen. Provisorische Quartiere, Suppenküchen und Spielzeug für Kinder stehen bereit, Haustiere werden mit versorgt. Deutsche Medien berichten plötzlich mit Anerkennung über Polens Flüchtlingspolitik. Das ist neu. Vor wenigen Monaten stand Warschau noch am Pranger wegen der harten Verteidigung seiner Ostgrenze.

Bürgerinnen und Bürger bereiten sich parallel darauf vor, dass auch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bald nach Deutschland kommen werden. Wollen nicht alle hierher?

Deutsche Verwunderung: Kommen Polen und Ungarn zur Vernunft?

In diese Anerkennung der Hilfsbereitschaft der direkten Nachbarn mischt sich zugleich Verwunderung: Polen und Ungarn? Das sind doch die, die bei der Flüchtlingswelle 2015 und in den Folgejahren die europäische Solidarität verweigert haben und eine Verteilung nach Quoten ablehnten.

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Kommen Polen und Ungarn zur Vernunft, weil der Krieg näher an ihre Grenzen rückt? Und weil sie nun selbst auf den Zusammenhalt von Nato und EU angewiesen sind?

[Lesen Sie auch: Schnelle Eingreiftruppe an die Ostgrenze. Die Nato muss sich auf Worst-Case-Szenarien einstellen. (T+)]

Das Erstaunen zeigt, dass die Ursachen des Zwists zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn immer noch nicht aufgearbeitet worden sind. Genaues Hinsehen, welche Flüchtlinge heute kommen und welche damals kamen, könnte helfen, Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven zu wecken.

Vor wenigen Monaten wurde Polen scharf kritisiert, weil es die Ostgrenze der EU mit einem Zaun gegen Migranten sicherte, die der Machthaber in Belarus, Alexander Lukaschenko, als politische Waffe missbrauchte.
Vor wenigen Monaten wurde Polen scharf kritisiert, weil es die Ostgrenze der EU mit einem Zaun gegen Migranten sicherte, die der Machthaber in Belarus, Alexander Lukaschenko, als politische Waffe missbrauchte.

© Marcin Obara/PAP/dpa

Aus der Ukraine fliehen vor allem Frauen und Kinder. Männer dürfen das Land nicht verlassen. Sie sollen bei der Verteidigung helfen. Viele Ukrainer kehren sogar aus dem sicheren Ausland zurück, um zu kämpfen, trotz der Lebensgefahr.

Bisher deutet auch wenig daraufhin, dass Deutschland und andere reiche Länder Westeuropas das eigentliche Ziel der Menschen sind, die aus der Ukraine fliehen. Dort führt Russland bereits seit 2014 Krieg, erst auf der Krim, dann im Donbass, nun in vielen Landesteilen.

Ganz vieles ist anders als beim Streit um Migration 2015

Der Großteil der Menschen, die bisher ins nahe Ausland geflohen sind, sind dort geblieben, vor allem in Polen, und nicht weiter nach Westen migriert. Die Ähnlichkeit von Sprache und Kultur haben das begünstigt; ebenso die geografische Nähe zu den Verwandten, die viele von ihnen in der Ukraine haben.

1,5 Millionen Ukrainer leben bereits in Polen, 60.000 ukrainische Kinder gehen dort in Kindergärten und Schulden. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße ist das so, als wenn Deutschland mehr als drei Millionen Kriegsflüchtlinge integriert. Von einem Ende der Hilfs- und Integrationsbereitschaft ist in Polen nichts zu spüren.

Da sind also viele Umstände ganz anders als 2015, dem deutschen Schlüsseljahr für den Umgang mit Flüchtlingen in Europa. Damals waren Zweidrittel davon Männer. Sie kamen aus fern gelegenen Kriegsgebieten wie Afghanistan, Irak und Syrien. Drei Viertel dieser Migranten waren jünger als 30 Jahre.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ sich im Sommer 2015 mit Migranten aus Kriegsgebieten im Mittleren Osten fotografieren. Polen und Ungarn lehnten damals eine Verteilung nach Quoten in der EU ab.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ sich im Sommer 2015 mit Migranten aus Kriegsgebieten im Mittleren Osten fotografieren. Polen und Ungarn lehnten damals eine Verteilung nach Quoten in der EU ab.

© picture alliance/dpa

Ihr Ziel war nicht, im nächstgelegenen Staat zu bleiben, in dem ihnen keine Gefahr für Leib und Leben droht. Sie migrierten durch mehrere sichere Drittstaaten nach Deutschland in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Daran ist nichts verwerflich. Mehr noch: Das würden viele Deutsche an ihrer Stelle ähnlich machen.

Die Zahl der Kriegsflüchtlinge kann Nachbarländer rasch überfordern

Da liegt aber der Kern des Streits um die Aufnahmepolitik. Die Mehrheit der EU-Staaten folgte der deutschen Deutung nicht, dass die Menschen, die 2015 kamen, Kriegsflüchtlinge seien, die auf ihrem langen Weg nirgendwo sichere Zuflucht hatten. Es seien zum Großteil nicht Asylfälle, sondern Wirtschaftsmigranten. Welchen Sinn mache es da, fragten östliche EU-Partner, sie nach Quoten zu verteilen, wenn sie gar nicht in Polen, Ungarn oder Bulgarien bleiben wollten?

Die Realität war gewiss viel komplexer. Die direkten Nachbarstaaten der Kriege in Syrien, im Irak und Afghanistan waren längst überlastet mit Kriegsflüchtlingen.

[Lesen Sie auch: Schmach des Bedeutungsverlusts. Putin will das Rad der Geschichte mit Waffengewalt zurückdrehen. (T+)]

Ähnlich könnte es bald den direkten Nachbarn der Ukraine gehen. Dann werden Deutschland, Österreich, Schweden und andere mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen helfen. Hoffentlich.

Das Narrativ aber, Polen und Ungarn hätten ihre Haltung geändert, führt in die Irre. Sie handeln aus ihrer Perspektive konsequent. Ja zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus einem direkten Nachbarland, Nein zur Verteilung von Wirtschaftsmigranten aus weit entfernten Staaten.

Man muss diese Sicht nicht teilen. Aber es hilft dem Zusammenhalt in der EU, sie zu kennen. Denn der beruht auf dem Verständnis der Europäer füreinander.

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