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Wem sollen Schüler im Konflikt von Werten folgen - den Lehrern oder den Eltern?

© Julian Stratenschulte/dpa

Kopftuch, Schwimmunterricht, Schweinefleisch: Warum wir die Leitkultur nicht überstülpen sollten

Ein elfjähriges muslimisches Kind hat in Berlin eine Lehrerin massiv bedroht: Solche Meldungen erschrecken. Aber wie funktioniert Integration? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ausländer kommen nach Deutschland. Sie stammen aus anderen Kulturen. Sie flippen aus, wenn der Prophet Mohammed beleidigt wird, lehnen Homosexualität ab, propagieren Antisemitismus. Das muss sich ändern.

Ein gedeihliches Zusammenleben kann es nur dann geben, wenn diese Menschen unsere Werte akzeptieren. Dazu gehören Meinungsfreiheit, Gewaltlosigkeit und die Toleranz sexueller Vielfalt. Die Ausländer müssen sich integrieren.

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Das spiegelt, nur wenig überspitzt, die gängige Meinung wider. Im Kern ist sie richtig. Ein elfjähriges muslimisches Kind hat in Berlin eine Lehrerin massiv bedroht: Solche Meldungen elektrisieren, weil aus ihnen Versäumnisse abgeleitet werden. Doch wie funktioniert sie, die Integration? Und wo wird sie am sinnvollsten praktiziert?

In der Schule!, lautet die spontane Antwort. Sie sei der geeignete Ort, um Kindern und Jugendlichen unbeeinflusst von der direkten Kontrolle ihres Elternhauses unsere Werte zu vermitteln. Die Lehrerschaft als maßgebliche Integrationsinstanz: Das freilich bürdet den Pädagogen eine schwere Last auf. Vielleicht überfordert es manche sogar.

Im Jahre 1957 schrieb die Philosophin Hannah Arendt einen Essay mit dem Titel „Little Rock“. Darin setzte sie sich mit der Forderung auseinander, schwarze und weiße Kinder gemeinsam zu unterrichten, um ihre Toleranz zu fördern. Arendt fand das falsch. Erzwungene Integration würde die Kinder in einen ernsten Konflikt stürzen: „Der Konflikt zwischen Zuhause, wo es Rassentrennung gibt, und der Schule, wo diese aufgehoben ist, zwischen dem Vorurteil der Familie und den Forderungen der Schule, beseitigt auf einen Streich sowohl die Autorität der Lehrer als auch die der Eltern.“ Von Kindern könne man nicht erwarten, dass sie damit fertig würden.

Aushalten von Widersprüchen

Der Verlauf der Geschichte hat Arendts Einspruch widerlegt. Doch das Dilemma, das sie beschreibt, ist real. Was geschieht mit Kindern, denen in der Schule das Gegenteil dessen vermittelt wird, was ihre Eltern ihnen beigebracht haben? Wenn etwa, um es auf die personelle Ebene zu bringen, die Achtung vor der Gemeinschaftskundelehrerin kollidiert mit der Liebe zum Vater und zur Mutter? Interkulturelle Erziehung kann offenbar nicht einfach im Überstülpen der Leitkultur der Mehrheitsgesellschaft bestehen. Sie muss ergänzt werden durch das Aushalten von Widersprüchen.

Dazu gehört eine gewisse Bewahrungsmöglichkeit kultureller Eigenart. Wenn Schule ein gelingender Integrationsort sein soll, darf sie sich nicht an Symbolen wie Kopftuch, Schwimmunterricht oder schweinefleischfreiem Essen verkämpfen. Relevanter sind die großen Themen: Selbstbestimmung, Gewaltfreiheit, Toleranz. Gefordert ist der Brückenschlag von Wertesystem zu Wertesystem, nicht eine Art Normen-Exorzismus.

Es braucht einen Raum für Andersartigkeit

Ist das ein Aufruf zur Verleugnung der eigenen Identität? Keineswegs. Sondern es ist ein Appell an den Wirklichkeitssinn. Wer sich seiner selbst gewiss ist, kann Andersartigkeit einen Raum geben, weil dessen Fundamente nicht wackeln.

Schule eröffnet Welten und lässt Talente sich entwickeln. Auch diese traditionelle Leistung trägt erheblich zur Integration bei. Ein Heranwachsender, dem die Gesellschaft eine Zukunft bietet, kann dem Impuls widerstehen, dieser Gesellschaft den Rücken zuzuwenden. Das gilt für alle – ob für Einheimische mit oder ohne Migrationshintergrund.

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