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Die Regierung von Präsident Erdogan, hier mit seiner Frau Emine, hat schon vor Jahren das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen abgeschafft.

© Adem Altan/AFP

Kopftuch in der Türkei: Wie der Stoff das Land spaltet

Für konservative Türken gehört das Kopftuch zum unverzichtbaren Teil ihrer Identität. Dennoch legen Frauen das Tuch ab - trotz des gesellschaftlichen Drucks.

Als Büsra Cebeci vor einigen Jahren in den Semesterferien zu ihrer Familie in die anatolische Kleinstadt Boyabat fuhr, gab es ein Donnerwetter: Die Studentin hatte sich auf der fernen Uni entschlossen, das islamische Kopftuch abzulegen. „Mein Vater befürchtete, dass ich in der Hölle braten werde“, berichtet die 25-jährige heute. „Meine Mutter schämte sich, mit mir auf die Straße zu gehen.“

Cebeci ließ ihr Haar trotzdem offen und arbeitet inzwischen als Journalistin in Istanbul, wo sie Dutzende Frauen zu ihrer Entscheidung gegen das Kopftuch befragt hat. „Ich habe noch Glück gehabt“, sagt sie im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Denn bei vielen Frauen ist der Druck der Familien auf die Frauen sehr viel höher, weil das Kopftuch für konservative Türken ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität als Muslime ist. „Es gibt Frauen, die Selbstmordversuche unternommen haben oder misshandelt worden sind“, berichtet Cebeci. In mindestens einem Fall sei eine Frau sogar in der Nervenklinik gelandet.

"Du wirst nicht mehr allein sein"

Frauen, die das Kopftuch ablegen, hat es immer gegeben. Doch viele Betroffene haben lange im Stillen mit der Entscheidung gerungen. Erst seit relativ kurzer Zeit bieten Internet und soziale Medien die Möglichkeit zur Vernetzung mit Gleichgesinnten.

„Du wirst nicht mehr allein sein“, heißt eine Website, auf der Frauen anonym über ihre Erfahrungen berichten können. Auf Twitter hagelte es unter dem Hashtag „#10YearChallenge“ kürzlich Beiträge türkischer Frauen, die Bilder von sich mit und ohne Kopftuch veröffentlichten. Auch Cebeci war darunter.

Das „große Netz der Solidarität“, wie Cebeci es nennt, macht vielen Frauen Mut. Früher wollten die Frauen vor Angst nicht über ihre Entscheidungen sprechen – heute stellen sie ihre Fotos ins Netz.

Etwa zwei von drei Frauen in der Türkei tragen ein Kopftuch. Die islamisch-konservative Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat seit ihrem Machtantritt vor 16 Jahren das Verbot der weiblichen Kopfbedeckung in staatlichen Institutionen abgeschafft: ein Ausdruck der Normalisierung in einem zu 99 Prozent muslimischen Land, sagt die Regierung. Ein Alarmzeichen für eine zunehmende Islamisierung der Gesellschaft, sagen Gegner des Präsidenten.

Auf Distanz zur Religion

Dass die Türken unter Erdogan islamischer geworden sind, ist aber nicht sicher. Eine neue Langzeit-Umfrage legt nahe, dass die Türken immer mehr auf Distanz zur Religion gehen. Laut der Studie des Instituts Konda ist der Anteil der Frauen ohne Kopftuch in den letzten zehn Jahren von 34 auf 37 Prozent gestiegen. Heute bezeichnen sich noch 51 Prozent der Türken als fromm, vier Prozentpunkte weniger als vor zehn Jahren.

In der Abwendung vom Kopftuch eine Abkehr vom Islam zu sehen, wäre aber zu einfach. Für manche Frauen geht es um ganz private Dinge wie die Persönlichkeitsentwicklung. Sie habe mit zwölf Jahren das Kopftuch angelegt und es mit 18 ausgezogen, schreibt eine Betroffene auf der Website „Du wirst nicht mehr allein sein.“

Hat das Kopftuch abgelegt: Büsra Cebeci
Hat das Kopftuch abgelegt: Büsra Cebeci

© Privat

Die Reaktion von Freunden und Verwandten sei zwar unerwartet feindselig gewesen. „Aber ich habe in meinen 18 Jahren zum ersten Mal etwas getan, bei dem ich mich ganz wie ich selbst fühle.“

Manche Frauen haben in ihrem Leben einfach Dinge vor, die mit Kopftuch nur schwer machbar sind, hat Cebeci beobachtet. „Die eine will Theater spielen, die andere will Sport treiben, die dritte findet sich einfach mit offenem Haar attraktiver – es können sehr alltägliche Dinge dahinter stecken.“

Früher mit Kopftuch: Büsra Cebeci
Früher mit Kopftuch: Büsra Cebeci

© Privat

Politisch instrumentalisiert

Was immer die Gründe für eine Entscheidung gegen das Kopftuch sind: Das Tuch bleibt ein politisch heikles Thema. Auf dem Rücken der Frauen werde der Streit zwischen religiösen und säkulären Gruppen in der Gesellschaft ausgetragen, sagt Cebeci.

Das führe dazu, dass sich manche Kopftuch-Frauen als politische „Maskottchen“ fühlen: Von der Regierung werden sie als schutzwürdige Opfer angeblicher Angriffe von Säkularisten präsentiert, von säkularistischen Parteien werden sie als religiöses Feigenblatt instrumentalisiert.

Oft eine private Entscheidung

Mit Kopftuch werde man automatisch der Erdogan-Partei AKP zugerechnet, was längst nicht jeder Frau recht sei, sagt Cebeci. Ein Kopftuch zu tragen und trotzdem einen westlichen Lebensstil zu pflegen, sei aber ebenfalls fast unmöglich: „Wenn du mit Kopftuch in eine Kneipe gehst, wirst du sofort von Säkularisten fotografiert, die dein Bild überall verbreiten.“

Viele Betroffene haben deshalb die Nase voll davon, ihre privaten Entscheidungen ständig von Anderen bewerten zu lassen, wie ein Kommentar auf der Website deutlich macht: „Lasst die Frauen doch selbst entscheiden, wie sie leben wollen.“

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