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Israelische Soldaten bereiten Panzer nahe der Grenze zum Gazastreifen auf einen möglichen Einsatz vor.

© dpa

Konflikt im Nahen Osten: Wie ist es um Israels Sicherheit bestellt?

Dem jüdischen Staat droht ein neuer Krieg - unter vielen Israelis gilt das als abgemacht. Besuch in einem verunsicherten Land.

Ein warmer Spätsommermorgen im Süden von Israel. Vielleicht drei, vier Kilometer sind es von hier bis in den Gazastreifen. Man sieht Häuser am Horizont. Fast zwei Millionen Menschen leben dort unter der strengen Kontrolle der Terrororganisation Hamas.

Aus der Ferne erkennt man Rauch aufsteigen. Es sei einer der Branddrachen, sagt eine Soldatin der israelischen Armee. Einer von jenen Feuerdrachen also, die in den vergangenen Monaten immer wieder von Gaza nach Israel geschickt wurden: Es sind Drachen, an denen brennende Stofffetzen oder Sprengsätze befestigt sind.  Sie landen in den vergangenen Monaten immer wieder auf den israelischen Feldern und verursachten Brände und zerstörten die Ernte der israelischen Bauern. Verluste in Millionenhöhe sollen durch sie entstanden sein

Für die Israelis, die entlang der Grenze zum Gazastreifen leben, sind die Flugdrachen eine weitere Attacke auf ihr Leben, das von Angriffen nicht gerade arm ist. Tausende Raketen wurden in den vergangenen Jahren aus dem Gazastreifen nach Israel geschossen. Die große Mehrheit davon zielte auf die israelischen Ortschaften im Grenzgebiet. Aber auch Städte weiter nördlich, die jüngste Konfrontation mit dem Islamischen Jihad haben das gezeigt, sind nicht sicher vom Beschuss.

Die Polizei von Sderot hat die Überbleibsel der abgefeuerten Raketen gesammelt.
Die Polizei von Sderot hat die Überbleibsel der abgefeuerten Raketen gesammelt.

© JCB

Am schlimmsten getroffen hat es das Städtchen Sderot, das keine zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt. Mehr als 6.000 Raketen wurden seit 2001 auf die Ortschaft geschossen. Das dortige Polizeirevier hat irgendwann begonnen, die (entschärften) Geschosse zu sammeln und vor der Wache auszustellen. Wer vor ihnen steht, könnte die zahllosen Raketenröhren für eine Kunstinstallation halten – eine sehr finstere allerdings.

Ortswechsel. Ein Restaurant im Stadtzentrum von Tel Aviv.

Trotz aller Feuerdrachen und Kurzstreckenraketen: Der Journalist Ron-Ben Yishai gibt sich gelassen. Die Sicherheits-Situation in Israel sei die beste, die es jemals gegeben habe, sagt er. Und muss es wissen: Yishai ist eine Reporter-Legende in Israel, seit den späten 60er Jahren hat er über jeden Krieg berichtet, den Israel kämpfen musste.

In einigen hat er sogar mitgekämpft. Etwa im Sechstagekrieg: „1967 war ich Reserveoffizier. Als ich damals in den Helikopter stieg, um hinter der ägyptischen Front eine Artillerie-Stellung anzugreifen, wusste ich nicht, ob es überhaupt noch einen jüdischen Staat geben würde, in den ich nach dem Kampfeinsatz zurückkehren könnte.“

Die Zeiten haben sich geändert.

„Heute gibt es zwar noch ernsthafte Gefahren für uns. Es gibt aber derzeit keine Bedrohung, die existenziell für Israel als unabhängiger, jüdischer Staat wäre“, sagt Yishai. „Syrien würde Israel zwar gerne vernichten, doch die Armee besitzt die Kapazitäten nicht“, erklärt er. Die ägyptische Armee wiederum hätte die entsprechenden Kapazitäten zwar, um Israel auszulöschen. Aber Kairo habe kein Interesse daran: „Im Gegenteil: Wir helfen den Ägyptern in ihrem Kampf gegen die Dschihadisten auf der Sinai-Halbinsel.“ Es gebe derzeit keine muslimische Armee in der Welt, die Israel zerstören könne oder wolle, wiederholt Yishai deshalb.

„Selbst die Iraner könnten uns nicht besiegen und ins Meer werfen, wie sie es in der Vergangenheit angedroht und auch versucht haben“, sagt er. Und schiebt eine Einschränkung direkt hinterher: „Zumindest könnten sie uns nicht auf dem konventionellen Weg besiegen.“ Sollten die Iraner hingegen Nuklearwaffen haben, wäre die Situation eine andere: „Dann wäre die Existenz Israels in Gefahr“, sagt Yishai. „In ernster Gefahr."

Doch die Abwesenheit einer existenziellen Bedrohung bedeutet nicht, dass auch der Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt abwesend wäre. Im Gegenteil, er hat seinen festen Platz im israelischen Alltag. Er taucht immer wieder auf - und verschwindet dann wieder.

Der Kalandia-Grenübergang im Westjordanland.
Der Kalandia-Grenübergang im Westjordanland.

© JCB

Eine der Stellen, an der man ihm begegnen kann, ist der Grenzübergang Kalandia. Etwa 4.000 Menschen reisen täglich von hier in das israelische Kernland ein. Die meisten von ihnen sind Palästinenser, die nach Israel zur Arbeit fahren und in der Westbank leben. Zu Jahresbeginn wurde das alte Kontrollgebäude durch einen Neubau ersetzt. Seither dauert der Grenzübergang für die Palästinenser nur noch wenige Minuten und nicht mehr eine Stunde.

„Hier läuft es mittlerweile wie auf jedem Flughafen“, sagt ein Soldat, der in Kalandia seinen Wehrdienst leistet.

Grundsätzlich stimmt das auch: Im Inneren des Gebäudes stehen palästinensische Pendler geduldig Schlange und warten darauf, ihre biometrischen Arbeitsgenehmigungen von vollautomatischen Terminals auslesen zu lassen. Ist das geschehen, öffnet sich, ebenfalls vollautomatisch, die Glastür und macht den Weg nach Israel frei.

Letzte Anschlag war im Oktober

Bei aller Ähnlichkeit ist der Flughafen-Vergleich dennoch etwas weit gegriffen. Viel Zeit auf die architektonische Ästhetik jedenfalls wurde nicht verwendet, es ist ein kalter Zweckbau, den man schnellstmöglich wieder verlassen will, sobald man ihn betreten hat. Es ist einer dieser Orte, an denen der Konflikt zwischen Arabern und Israelis spürbar wird.

Dass Übergänge wie der in Kalandia aber weiterhin nötig sind, zeigte sich zuletzt im Oktober.

Eine Terroristin versuchte, mit einem Messer zwei Polizisten anzugreifen - nur durch ein Wunder gab es, von der Angreiferin abgesehen, keine Verletzten. Und es deutet einiges darauf hin, dass Kontrollanlagen wie der in Kalandia noch lange stehen werden, davon ist jedenfalls Kobi Michael überzeugt, der an der Universität von Tel Aviv über die Sicherheitspolitik im Nahen Osten forscht.

Der Konflikt zwischen Arabern und Israelis werde oft falsch verstanden, sagt Michael. Er werde als eine Auseinandersetzung über einen Streifen Land gedeutet. Doch so einfach sei es nicht. Tatsächlich spiegele sich in ihm aber ein Konflikt wider, der weit darüber hinaus gehe. „Die islamische Zivilisation durchlebt eine tiefe Krise, die historische Wurzeln hat“, sagt er.

Über viele Jahrzehnte hinweg habe der nationalstaatliche Gedanke, den Frankreich und England ihren Kolonien aufgedrängt hätten, die politische Ordnung in der Region geprägt. „Mit den Protesten des Arabischen Frühling aber bekamen diese nationalstaatlichen Prinzipien Risse, die politische Ordnung kollabierte damals.“ Und hervor traten alte, historische Konflikte.

„Im neuen Mittleren Osten kämpfen vier Lager einen blutigen Kampf um die regionale Hegemonie“ erklärt Michael. „Einerseits gibt es den jahrhundertealten Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten. Andererseits konkurrieren dschihadistischen Bewegungen wie der Islamische Staat mit den pragmatisch-islamischen Regionalmächten Saudi Arabien und Ägypten.“ Vertreter dieser vier Achsen fände man in jedem Konflikt der Region.

Aus dieser Perspektive heraus müsse auch der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern betrachtet werden. „Nehmen wir zum Beispiel die vielen gescheiterten Versöhnungsversuche zwischen Hamas und Fatah in den vergangenen Jahren“, sagt Michael. „Sie alle scheiterten daran, dass sich die beiden Organisationen jeweils anderen Achsenmächten in der islamischen Welt zugehörig fühlten: Hamas ist die palästinensische Variante der dschihadistischen Muslimbrüder, die Fatah hingegen zählt sich zum pragmatisch-islamischen Lager.“   

Ein Ort, von dem man diesen innerislamischen Konflikt in den vergangenen Jahren tagtäglich mitverfolgen konnte, liegt gut zwei Autostunden nördlich vom Kalandia-Grenzübergang – auf dem Berg Avital. Auf einem Parkplatz der Landstraße 98 stoppen immer wieder Autos mit israelischen Ausflüglern, die hier eine kurze Pause auf ihrem Weg über den israelischen Teil der Golanhöhen machen. Ein arabischer Händler hat die Chance ergriffen und verkauft an einem kleinen Stand Äpfel, Oliven und Sprite. Grillen Zirpen in den Büschen, die Sonne streichelt über die hügelige Landschaft, nichts an diesem Ort deutet auf die Hölle hin, die hier in den vergangenen Jahren geherrscht hat.

Arabischer Händler nahe der syrischen Grenze.
Arabischer Händler nahe der syrischen Grenze.

© JCB

Dabei ist sie in Sichtweite: Drei Kilometer sind es von hier aus bis zur syrischen Grenze. „Wer hier im vergangenen Jahr zum Picknicken kam, konnte den Kämpfen auf der anderen Grenzseite zusehen“, erzählt eine Soldatin der israelischen Streitkräfte. Wer gegen wen kämpfte, war für die Außenstehenden dabei bisweilen nicht mehr zu erkennen.

„Im südlichen Teil der Golanhöhen, etwa 20 Kilometer von Quneitra entfernt, hatte der Islamische Staat das Sagen. Den Norden konnte das Regime von Baschar Al-Assad halten – und dazwischen hatten sich mehr als zwölf syrische Rebellengruppen festgesetzt“, sagt die Soldatin. „Die Situation war vollkommen außer Kontrolle geraten.“ 

Durch einen blutigen Offensive gelang es Regime dann ab dem Sommer 2018, das Gebiet wieder komplett unter seine Kontrolle zu bringen. Befriedet ist die Region damit aber nicht: Noch immer gebe es fast täglich Attacken gegen die Regimetruppen, sagt die israelische Soldatin, gleichzeitig verübe aber das Regime Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung, was wiederum zu Racheakte gegen die Truppen Assads führe. „Es ist eine sehr instabile Situation“, sagt die Soldatin. Jeden Monat verlieren zwischen 40 und 50 Menschen in Quneitra und der näheren Umgebung ihr Leben, so die Schätzung der israelischen Armee.

Hisbollah setzt sich an der Grenze fest

Im Vergleich zu den früheren Bürgerkriegsjahren sei aber wieder Ruhe eingekehrt – eine besorgniserregende Ruhe aus israelischer Perspektive. Denn das syrische Regime kehrte nicht alleine an die Grenze zurück, sondern in Gefolgschaft der libanesischen Miliz Hisbollah.

„Die Führer der Hisbollah haben die Instabilität in Syrien ausgenutzt und damit begonnen, Einheimische Syrer militärische zu schulen“, sagt die Soldatin. „Wir beobachten mittlerweile täglich gemeinsame Patrouillen zwischen Hisbollah-Kämpfern, syrische Armeeangehörigen und der einheimischen Bevölkerung.“

200 bis 400 Dollar zahlt die Terrortruppe den Kämpfern in Syrien, sagt die Soldatin - das liege noch über dem Sold, den die syrische Armee ihren Soldaten zugesteht. Bislang sei die Truppe nur damit beschäftigt, Informationen zu sammeln, in einem zweiten Schritt werde sie wohl Waffen ins Gebiet führen, befürchtet die israelische Armee. 

Es wäre die zweite Front, an der Israel der schiitischen Miliz gegenüberstehen würde. 

Blick auf die Sperranlage an der Grenze zum Libanon.
Blick auf die Sperranlage an der Grenze zum Libanon.

© JCB

Fahrt zur anderen Front – der israelischen Grenze mit dem Libanon. Und anders als die Grenze zu Syrien ist diese nicht zu übersehen: eine neun Meter hohe Betonwand fräst sich durch die hügelige Landschaft rund um Israels nördlichste Ortschaft Metulla. Auf israelischer Seite wachsen entlang des Bauwerks Apfel- und Aprikosenbäume  – unter Beobachtung von den Scharfschützen der Hisbollah.

„Glauben Sie nicht, dass wir hier unbeobachtet sind. Jeder unserer Schritte wird von der Hisbollah registriert“, sagt die Soldatin und deutet auf die Häuser, auf der libanesischen Seite in den Berghang gebaut wurden.

Mit der Mauer will die Armee verhindern, dass Kämpfer der Hisbollah ins Land eindringen und israelische Soldaten entführen, wie es 2006 geschehen ist. Damals griff ein Kommando der Terrorgruppe eine israelische Patrouille an, tötete acht Soldaten und verschleppte zwei weitere in den Libanon, wo sie ebenfalls ermordet wurden. Die Operation war Auslöser für den zweiten Libanonkrieg.

Ob sich Vorfälle wie dieser mit der neuen Grenzanlage künftig verhindern lassen? Eher unwahrscheinlich. Denn die Terrororganisation hat Wege gefunden, die streng bewachte Grenze zu überschreiten. Etwa durch tiefe Tunnel, die in den vergangenen Jahren in die Erde getrieben wurden. Mehrere davon hat die israelische Armee mittlerweile entdeckt und die Kontrolle darüber übernommen.

130.000 Raketen im Arsenal

Doch viel gefährlicher noch als derartige Kriegsbauwerke ist die Ausrüstung. Die Hisbollah soll auf ein Arsenal von mehr als 130.000 Raketen zurückgreifen können – darunter auch Langstreckenraketen aus iranischer Produktion, mit denen jeder beliebige Ort in Israel attackiert werden könnte. Der nächste Krieg mit der Terrorgruppe, so steht zu befürchten, würde viele Tote auf israelischer Seite fordern.

Zumindest derzeit deutet nichts darauf hin, dass die Terrororganisation – von einigen kleineren Scharmützeln abgesehen -  eine größere Auseinandersetzung mit Israel wagen würde. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ihre Schutzmacht, das iranische Regime in Teheran, derzeit auf vielen anderen Schlachtfeldern des Nahen Osten kämpft.

Dass es aber in absehbarer Zeit zu einem neuen Krieg kommen wird, daran zweifelt niemand in Israel. Und dass auch das iranische Regime an diesem Krieg beteiligt sein wird – sei es direkt oder über seine Stellvertreterorganisationen Hisbollah oder Hamas – auch daran besteht kein Zweifel in Israel. „Der Mittlere Osten hat sich dramatisch verändert in den vergangenen Jahren“, sagt Sicherheitsexperte Kobi Michael. Es gäbe ein Kräftemessen zwischen den verschiedenen Akteuren, einen Kampf um die Hegemonie in der Region - und der sei noch lange nicht abgeschlossen.

Matcal Tower in Tel Aviv, das Hauptquartier der israelischen Armee.
Matcal Tower in Tel Aviv, das Hauptquartier der israelischen Armee.

© JCB

Und dann wäre da noch dieser neue Anrainer in der Nachbarschaft: Russland. Hoch oben im Matcal Tower von Tel Aviv, dem Wolkenkratzer, der Israels Armee als Hauptquartier dient, hat man Moskaus neues Interesse für den Nahen Osten in den vergangenen Jahren mit Argwohn beobachtet. Fragt man Jonathan Conricus, Sprecher der Israelischen Streitkräfte, danach, ob die russischer Militärkampagne in Syrien als eine Bedrohung für die israelische Sicherheit erachtet wird, folgt eine lange Antwort – in der das Wörtchen Russland gleichwohl kein einziges Mal fällt.

Und gerade deswegen spricht seine Antwort Bände darüber, wie Moskaus Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg in Israel bewertet wird. „Wer sich die Karte des Nahen Osten im Jahr 2011 angesehen hat, sah eine Region mit souveräne Staaten in unserer Nachbarschaft“, sagt er. „Was wir acht Jahre später sehen, sind Expeditionsstreitkräfte von mehreren mächtigen Ländern, einige davon teilen wir nicht und manchmal widersprechen sie auch Israels Sicherheitsbedürfnis.“ Conricus mag seine Worte diplomatisch gewählt haben, die Sorge ist aber aber nicht zu überhören.

Das Stück basiert auf Gesprächen, die während einer Journalistenreise geführt wurden. Teile der Kosten für diese Reise wurden von der NGO "Europe Israel Press Association" (EIPA) übernommen.

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