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Geschichtsvergessen. Die russischen Biker-"Nachtwölfe" lieben Stalin immer noch.

© dpa

Kommunismus und Nationalsozialismus: Verdrängtes Erbe

Die Erweiterung des Gedenkhorizontes relativiert keine deutschen Verbrechen: Warum der 23. August als Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus begangen werden sollte. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Heute ist der 23. August, das ist ein Gedenktag. Aber es ist ein Gedenktag, den kaum einer kennt. Keine Rede wird gehalten, kein Kranz niedergelegt, keine Kerze entzündet. Verdruckstes Schweigen liegt über diesem Tag, ganz so, als dürfe es ihn nicht geben. Dabei wurde er im April 2009 mit großer Mehrheit vom Europäischen Parlament beschlossen. Er geht zurück auf die „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“, die im Juni 2008 von mehreren prominenten europäischen Politikern – darunter Joachim Gauck, Vaclav Havel und Vytautas Landsbergis – sowie überwiegend osteuropäischen Intellektuellen, Dissidenten und Historikern unterzeichnet wurde. Es ist der Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus.

Warum dieses Datum? Der 23. August ist der Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, der 1939 die Aufteilung Polens und der baltischen Staaten zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion besiegelte. In Moskau auf Außenministerebene unterzeichnet von Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, konnte Hitler auf seiner Grundlage den Aggressionskrieg gegen Polen beginnen, das Land mit der damals größten jüdischen Bevölkerung in Europa. Der deutschen Aggression schloss sich Stalin am 17. September an und überfiel mit der Roten Armee den Osten Polens. Die Verbündeten trafen sich in der Mitte und feierten eine gemeinsame Siegesparade. Rund 200 000 polnische Zivilisten wurden zwischen 1939 und 1941 ermordet, je zur Hälfte von Hitlers und Stalins Soldaten.

Führende jüdische Vertreter ahnten bereits unmittelbar nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes – gewarnt auch durch den virulenten Antisemitismus in Deutschland, den Ereignissen in Österreich nach dem „Anschluss“ und den Vertreibungen in der Tschechoslowakei –, was diese Allianz für sie bedeuten würde. Ende August 1939 tagte in Genf der 21. Zionistische Weltkongress. Die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt stürzte die Teilnehmer in große Sorge. Chaim Weizmann schloss seine Rede damals mit den Worten: „Ich habe nur einen Wunsch, dass wir alle am Leben bleiben.“

„Die Prager Erklärung übersieht den präzedenzlosen Charakter des Holocaust"

„Zwischen 1939 und 1941 gab es eine totalitäre Kooperation“, bilanziert Claus Leggewie, Historiker, Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. „Viele Staaten haben eine doppelte Okkupation durch deutsche und sowjetische Truppen erlebt. Im Osten ist das bekannt, im Westen dagegen sind das völlig unbearbeitete Konfliktgegenstände, wie auch die Frage der Kollaboration in Zeiten von Holocaust und Gulag.“ Seit vielen Jahren kämpft Leggewie für die Anerkennung des Gedenktages.

Doch es gab und gibt Widerstände. Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem, warnte früh vor den „heimtückischen und gefährlichen“ Zielen der Initiative. Die Wahl des Datums impliziere, „dass die Sowjetunion und Nazideutschland gleichermaßen für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären“. Die behauptete Austauschbarkeit beider Phänomene „übersieht den präzedenzlosen Charakter des Holocaust und erhöht die kommunistischen Verbrechen in ihrer tatsächlichen historischen Bedeutung“.

Dem widersprach vehement der vor anderthalb Jahren verstorbene israelische Wissenschaftler und Publizist Barry Rubin. Derartige Behauptungen seien verleumderisch und falsch. Die Prager Erklärung lenke in keiner Weise von den Verbrechen der Nationalsozialisten und Faschisten ab. Juden und Israelis sollten sich durch Kritik daran nicht dem Verdacht aussetzen, das kommunistische totalitäre Regime verteidigen zu wollen.

„Gesellschaften, die ihre Vergangenheit vernachlässigen, haben keine Zukunft“

Es hat lange gedauert, bis im deutschen Holocaust-Gedenken auch andere Opfergruppen als die der Juden thematisiert wurden – Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas. Dass es auch Opfer eines anderen totalitären Regimes gibt, sollte zumindest fester Gedenkbestandteil europäischer Erinnerungskultur sein. „Gesellschaften, die ihre Vergangenheit vernachlässigen, haben keine Zukunft“, steht in der „Prager Erklärung“. Europa könne nicht vereint werden, wenn es nicht in der Lage sei, „Kommunismus und Nationalsozialismus als gemeinsames Erbe“ anzuerkennen.

Dabei relativiert die Erweiterung des Gedenkhorizontes in keiner Weise die deutschen Verbrechen an den europäischen Juden. Der 27. Januar ist als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust unumstößlich. Am 8./9. Mai wird der Sieg über den Faschismus gefeiert und der Opfer gedacht, die Russland und die drei Westalliierten im Zweiten Weltkrieg zu erleiden hatten. In dieser Abfolge bedeutet der 23. August eine Ergänzung, keine Korrektur.

Trotz der viel zitierten „Singularität von Auschwitz“ wurde es in den vergangenen Jahren möglich, andere Genozide in den Blick zu nehmen, an den Herero etwa oder den Armeniern. Es ist überfällig, dass in Europa auch die Opfer von Gulag, Holodomor und sowjetischer Oppression in das Gedenken eingebunden werden.

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