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Auf Abruf. 250 Roma-Familien leben in dieser Siedlung im ungarischen Miskolc. Wenn es nach dem Willen der Stadtregierung geht, müssen sie weichen.

© Anu-Laura Tuttelberg

Kommunalwahlen in Ungarn: Den Roma den Krieg erklärt

Heute wird in Ungarn gewählt. Aber in einem sind alle Parteien hier gleich: Sie haben den Roma den Krieg erklärt, um bei den Wählern zu punkten. Eine Reportage aus Miskolc.

Wie ein Slum sieht das hier nicht aus. Nicht wie die Mini-Favela aus Wellblech, Pappe und Sperrholz, in der viele Roma mitten im Zentrum der serbischen Hauptstadt Belgrad hausen. Nicht wie die verrottenden Plattenbauten im Stadtteil Lunik 9 des ostslowakischen Kosice, mit Wohnungen ohne Fensterscheiben und Türen und massenweise Müll zwischen den Häusern. Auch eine Mauer hat niemand hier im nordostungarischen Miskolc (sprich: Mischkolz) um die Siedlung gezogen, wie das auf behördliche Anordnung mit einem Roma-Wohngebiet im rumänischen Baia Mare geschah. Keine sichtbare jedenfalls.

Im schönsten Nachmittagslicht liegt sie da, die Siedlung aus einstöckigen Häusern, auf halber Strecke zwischen der idyllischen Altstadt und der nicht minder hübsch am Hügelrand gelegenen mittelalterlichen Burg Diosgyör. Schmal vom grasgrün gesäumte Asphaltsträßlein. Kaum Autos, dafür viele fröhlich lärmende, bunt gekleidete Kinder. Malerisch blättert da und dort Putz von den Häusern, hin und wieder künden Satellitenschüsseln von Gegenwart. Und auf der nahe gelegenen Durchgangsstraße rumpeln die altertümlichen Bahnen der Tram-Linie 1 vorbei. Alles reif also für den Touristen-Werbeslogan „Romantik pur“? Schöner kann der Schein kaum trügen.

Betritt man die Siedlung der von 1 bis 10 nummerierten Straßen – oder der „Straßen ohne Namen“, wie sie hier genannt werden –, ist es vorbei mit dem Postkartenparadies. Noch dazu, wenn eine Gruppe unangekündigt hineinschlendert, mit Reporter, Dolmetscherin, Fotografin. „Was wollt ihr hier?“, fragen die Bewohner bohrend. „Keine Fotos!“, ruft jemand. Ein anderer: „Jedenfalls keine von den schlechteren Häusern!“ Ein großes Palaver folgt, und es braucht einige Überzeugungskraft, bis sich unter den Umherstehenden und schnell in der Siedlung verbreitet, dass man nicht in böser Absicht kommt.

Tatsächlich sind die Straßenzüge mit den 60 Häusern, in denen 250 bis zu achtköpfige Familien leben, hochpolitisches Kampfgebiet. Seit Bürgermeister Ákos Kriza angekündigt hat, die Roma-Siedlung komplett zu räumen, damit auf dem Gelände ein Parkplatz für das benachbarte Fußballstadion entstehen kann, gilt Miskolc ungarnweit als derzeit krassestes Beispiel für staatlichen Antiziganismus. Und vor den am heutigen Sonntag stattfindenden Kommunalwahlen in Ungarn überbieten sich die nahezu gleichauf liegenden Parteien – die sozialdemokratische MSZP, die stramm rechte Fidesz und die neofaschistische Jobbik (deutsch: die Besseren) – in roma-feindlichen Parolen, um bei den Wählern zu punkten.

Unsicherheit, Stress, ja Panik regieren in der Roma-Siedlung

Angst regiert. Aranka Majoros soll das Haus verlassen, in dem sie ein Leben lang wohnte
Angst regiert. Aranka Majoros soll das Haus verlassen, in dem sie ein Leben lang wohnte

© Anu-Laura Tuttelberg

Unsicherheit, Stress, ja Panik regieren deshalb in der Roma-Siedlung. Aranka Majoros, Mutter von fünf erwachsenen Kindern, lebt seit Jahrzehnten in der Hatodik utca, der Straße Nr. 6. „Täglich nehme ich Medikamente gegen die Angst“, sagt die bekennende Katholikin. „Möge Gott geben, dass wir Hilfe bekommen.“ Stolz zeigt sie ihre penibel aufgeräumte kleine Dreizimmerwohnung, in der elf Familienmitglieder aus drei Generationen zusammenleben: Prunkstück ist die Wohnstube mit rot leuchtender Mohnblumentapete, riesigem Bett und Flatscreen-TV. Geheizt wird mit Holz, Wasser muss vom Brunnen geholt werden, gekocht wird per Gasflasche. „Ich wäre ja bereit, wegzuziehen, aber es müsste in ein gutes Haus sein“, sagt Aranka Majoros. „Das Schlimmste wäre, in einem totalen Chaos zu landen.“

Ein gutes Haus? Es gibt diese Alternative nicht, und das ist das Dilemma. Denn der Stadtrat hat im Mai ein Angebot beschlossen, dass man faktisch nicht annehmen kann: Jede Familie, die nachweislich außerhalb von Miskolc eine Wohnung kauft und mindestens fünf Jahre nicht zurückkehrt, bekommt dafür maximal zwei Millionen Forint, umgerechnet etwa 6500 Euro. Nur findet sich selbst in Ungarn für diesen Betrag kein bewohnbares Haus für eine vielköpfige Familie, und – schwerwiegender noch – als Nachbarn sind Roma, nicht anders als in Deutschland, auf dem Wohnungsmarkt extrem unbeliebt. Kein Wunder, dass bislang keine einzige Familie das an derlei Bedingungen geknüpfte Geld angenommen hat.

„Aussiedlung“ nennen ungarische Roma-Unterstützergruppen diese Strategie, „systematische Herstellung von Obdachlosigkeit“, ja, „ethnische Säuberung“ – und die rechtsextreme Jobbik schob dem von ihr mitgetragenen Beschluss gleich hinterher, eigentlich sollten alle Roma ganz ohne Abfindung raus aus Miskolc. Im Juni wiederum demonstrierten 500 Roma, ganz vorn Aranka Majoros, in der Innenstadt mit Parolen wie „Recht und Respekt“ und „Wir sind arm, aber nicht kriminell“. Doch als eine Gruppe von Roma Anfang August zum Zeichen drohender Obdachlosigkeit zehn Tage lang vorm Rathaus zeltete, spuckten rechtsextreme Jugendliche, so erinnert sich Attila Tomas, Menschenrechtsaktivist und selbst Rom, auf die Zelte. Und in Kommentaren auf der Jobbik-Webseite hieß es: „Wo kann man in Miskolc Flammenwerfer kaufen?“

Wir treffen Attila Tomas in den karg eingerichteten Räumen der Roma-Gemeinde in der Innenstadt – uralte Stühle, ein paar Tische, graue, halb leere Regale, ein kleiner Röhrenfernseher, kein Computer, kein Internetanschluss. Aber hier sammeln sich die Aktivisten, die die Demos organisieren und den Roma-Widerstand wachhalten. „Nur keine Gegengewalt“, bekräftigt Attila Tomas, „wir sind hier nicht in den USA oder in Paris.“ Die angedrohte Vertreibung der Roma aber macht ihn rebellisch. „Ich würde auch kämpfen, wenn Christen oder Schwule verfolgt werden.“

So selbstverständlich ein solches Aktivistenbüro etwa in Deutschland wäre, hier wirkt es wie eine Oase der Demokratie. Miskolc, mit seinen 162 000 Einwohner nach Budapest und Debrecen drittgrößte Stadt Ungarns, liegt am Südrand Zentraleuropas, gehört zur EU – und verschwindet zugleich, wie das ganze Land unter dem Fidesz-Autokraten und Ministerpräsidenten Viktor Orbán, in gefährlicher politischer Peripherie. Nur eine gute Autostunde ist es von Miskolc an die slowakische, ukrainische und rumänische Grenze; da können, abseits der europäischen Kernaufmerksamkeit und zudem im isolierten Verständigungsfeld der ungarischen Sprache, auch undemokratische Zustände in aller Ruhe gedeihen.

Dauerkrise und wachsende Verarmung der Bevölkerung

Ist es eine Ruhe vor dem Sturm? Attila Tomas nennt die Symptome beim Namen. Dauerkrise und wachsende Verarmung der Bevölkerung prägen den Alltag der einstigen Stahlwerk-Metropole Miskolc, in der in den 80er Jahren noch 200 000 Menschen wohnten. Die Roma, mit knapp zehn Prozent der Stadtbevölkerung exakt im Landesschnitt, hatten damals Arbeit wie alle anderen auch. Der Zusammenbruch des Kommunismus und die Schließung vieler Fabriken aber, sagt Tomas, machten die Roma als Erste massenweise arbeitslos. Wer als Rom heute Arbeit hat, schuftet, um die Kürzung der Sozialhilfe abzuwenden, für die Kommune – deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Eine arbeitslose Familie mit drei Kindern kommt auf rund 250 Euro Sozialhilfe inklusive Kindergeld, mithin die Hälfte dessen, was die Geringverdiener in der Tasche haben – ein dauerhafter Neid-Humus für die Nächstärmeren unter den Nicht-Roma.

Andererseits hat die Gegend um Miskolc eine Art Krieg gegen die Roma gerade erst hinter sich. Vor wenigen Jahren wütete eine spektakuläre Mordserie an Roma vor allem im Umkreis dieser Stadt, als eine der deutschen NSU-Bande ähnliche rechtsradikale Truppe 2008/2009 sechs Roma umbrachte und fünf weitere schwer verletzte. So wurde in Alsózsolca, einem Vorort von Miskolc, ein 25-jähriger Familienvater nachts zum Krüppel geschossen. In Nagycsécs, 25 Kilometer südlich von Miskolc, starben beim bewaffneten Angriff auf eine Familie eine Frau und ihr Schwager, und in Tiszalök, 50 Kilometer östlich gelegen, erschossen die Neonazis einen von der Nachtschicht heimkehrenden Mann. Der letzte Mord geschah im August 2009 in Kisleta, nicht weit hinter Tiszalök: eine Romni starb, ihre 13-jährige Tochter überlebte schwer verletzt.

Geradezu gespenstisch wirkt es da, wenn nun, kaum fünf Jahre später, die drei aussichtsreichsten Kandidaten um den Bürgermeisterposten ausgerechnet mit antiziganistischer Propaganda um Stimmen buhlen. Ákos Kriza, amtierendes Fidesz-Stadtoberhaupt und Initiator des Stadtratsbeschlusses, dominiert die Wahlwerbeflächen auf Großplakaten und allen Straßenbahnen. Sein MSZP-Konkurrent Albert Pásztor fiel vor Jahren als Polizeipräsident mit dem Statement auf, fast alle Straftaten würden von Roma begangen. Er wurde abgelöst, bedauerte offiziell – und sagt heute wieder: „Unter Zigeunerproblem verstehe ich, dass ein bedeutender Teil der Zigeuner sich nicht integrieren kann und kriminell ist.“ Jobbik-Kandidat Péter Jakab erklärt unumwunden, die Roma seien derart anspruchslos, dass sie menschenwürdige Lebensumstände eigentlich gar nicht erst verdienten.

Wie verschafft sich einer wie der Rom Gábor Váradi Gehör in einem solchem Klima, das politischer Verfolgung gleichkommt, obwohl es derartige Repressalien in der EU gar nicht geben dürfte? Auf den DIN-A5-Plakaten, die Helfer an Laternenmasten kleben, schaut der Kandidat der Magyarországi Cigány Párt (MCP) zum Slogan „Ertékek mentén“ (An Werten entlang) staatsmännisch ernst drein. Anders als Bürgermeister Kriza hat der Amtsbewerber der vor anderthalb Jahren in Miskolc gegründeten und seither landesweit agierenden Roma-Partei im Wahlkampf kurz Zeit für den Reporter aus dem Ausland. „Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist richtig gegen uns“, sagt der 39-jährige Katholik, der in einem Kinderheim aufgewachsen ist und den Priester und „Gesellenvater“ Adolph Kolping sein Vorbild nennt. Für einen wirkungsvollen Wahlkampf aber fehle es an Geld. „Wir müssen mit dem Hut herumgehen.“

"Wir bleiben in Miskolc"

Ungarn wählt am Sonntag neue Kommunalparlamente - hier in Hortobaby
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© Zsolt Czegledi/dpa

Ein David ist Váradi gegen die Goliaths in der Stadt, und sein Slogan „Wir bleiben in Miskolc“ bildet den nötigen Kontrast zum Top-Wahlkampfthema. 2500 Stimmen braucht er, so hat er ausgerechnet, für den Einzug ins Stadtparlament, aber sogar um die Mobilisierung der eigenen Klientel, der Roma, ist ihm bange. Zu erdrückend die Übermacht der anderen, zu viel Resignation, zu wenig politische Erfahrung auch ahnt er als Motiv, nicht zur Wahl zu gehen. Also tingelt er von Haus zu Haus: „Wir müssen das schaffen!“

Mut macht Váradi sich damit auch gegen das zermürbende Gefühl des Unwillkommenseins, das den Alltag der Roma prägt. Im mildesten Fall zeigt es sich daran, dass die Mehrheitsbevölkerung sie ignoriert – auch als heute stadtbekannter, seriöser MCP-Kandidat erinnert er sich gut daran, dass er vor noch nicht langer Zeit in Cafés nicht bedient wurde. Besonders drastisch gaben zuletzt die Rechtsradikalen diese Feindseligkeit zu verstehen, indem sie in Mannschaftsstärke durch ungarische Roma-Viertel zogen; erst eine gesetzliche Einschränkung der Versammlungsfreiheit bremste die Einschüchterer.

„Psychoterror“ nennt der Bürgerrechtler Attila Tomas eine solche Strategie und verweist auch auf subtilere Formen der Demoralisierung. So sei vor einigen Wochen unangekündigt der Sicherheitsdienst der Kommune in der Roma-Siedlung erschienen: „Eine richtige Razzia war das, 50 Leute von Jugendamt, Gesundheitsamt, Gartenamt, von den Stadtwerken und der Polizei.“ Da alle Häuser der Stadt gehören, hätten die Ämter jederzeit Zugang zu den Wohnungen. Begründet wurde der Besuch damit, man gehe „Meldungen aus der Nachbarschaft“ nach. Was ein wenig an den erweiterten Nachbarschaftsbegriff des Fidesz-Fraktionschefs János Kiss erinnert. Der quittierte eine von 35 000 Miskolcern unterschriebene Petition zur Räumung aller Roma-Siedlungen mit dem lapidaren Hinweis, ein solcher Wunsch sei „nicht von der Hand zu weisen“.

Auch die Erneuerung des Stadions, für dessen Parkplätze die Siedlung weichen soll, steht auf der Fidesz-Agenda weit oben – handelt es sich doch um ein Lieblingsprojekt des mächtigen Fußballfans Viktor Orbán. Landesweit lässt er derzeit Stadien erneuern oder gleich neu bauen – und für Miskolc, dessen Verein Diosgyör VTK in der ersten Liga Ungarns passabel reüssiert, soll es künftig gleich die oberste Uefa-Stadionkategorie für die Austragung von Champions-League-Spielen sein. Ob allerdings ein bloß renoviertes 15 000-Plätze-Stadion einen derart riesigen Parkplatz braucht, ist umstritten. Konkrete Pläne hat noch keiner der Betroffenen gesehen, und so deutet vieles auf einen willkommenen Vorwand für die groß angelegte Roma-Vertreibung hin.

Nur wohin? Vielleicht nach Sátoraljaujhely, wenn die Roma nicht gleich – durchaus prekäre – Zuflucht etwa in Deutschland suchen? Der Bürgermeister des Städtchens an der nahen Grenze zur Slowakei macht derzeit mit einem ganz besonderen Vorstoß von sich reden. Angesichts des möglichen Ansturms aus Miskolc vertriebener Roma setzt Peter Szamosvölgyi, auch er Fidesz-Parteimann, ein deutliches Signal. Demzufolge dürfen Roma-Familien die zwei Millionen Forint Abfindung selbstverständlich in den Kauf eines Hauses in Sároraljaujhely investieren. Allerdings verweigert die Gemeinde dann den Neubürgern fünf Jahre lang jedwede öffentliche Zuwendung, von der Jobvermittlung bis zur Sozialhilfe. Selbst wenn ein solcher Ukas vor keinem freien Gericht der Welt Bestand haben dürfte: Zynismus wirkt wie Gift. Gerade im heutigen Ungarn.

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