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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, winkt bei bei einem Besuch der türkischen Truppen in Ogulpinar an der Grenze zu Syrien aus einem Hubschrauber.

© Kayhan Ozer/Pool Presidential Press Service/AP/dpa

Kommandoaktion gegen Gülen-Anhänger im Kosovo: Erdogans Geheimdienst ergreift Gegner in Europa

Der türkische Präsident Erdogan lässt Gegner jetzt auch durch den eigenen Geheimdienst im europäischen Ausland verfolgen. Wie gefährlich leben sie hier?

Türkische Sicherheitskräfte haben erstmals in einem europäischen Land mutmaßliche Regierungsgegner festgenommen und in die Türkei gebracht. Bei einer Kommandoaktion des Geheimdienstes MIT im Kosovo griffen sich türkische Agenten sechs Mitglieder der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Der Fall dürfte weit über den Kosovo hinaus Schockwellen auslösen: Ankara ist wegen der aus türkischer Sicht mangelnden Kooperationsbereitschaft der Europäer offenbar entschlossen, europäische Regierungen zu umgehen und notfalls illegale Wege einzuschlagen, wenn es um die Bekämpfung der Gülen-Bewegung geht.

Laut Medienberichten war ein offizieller Auslieferungsantrag der Türkei für die sechs Gülen-Anhänger von der Staatsanwaltschaft im Kosovo abgewiesen worden. Präsident Recep Tayyip Erdogan sah dennoch keinen Grund, die Geheimdienstaktion geheim zu halten. Im Gegenteil feierte der türkische Staatschef die Festnahme von fünf Lehrern einer Gülen-Schule und eines Arztes als Erfolg. Den Ministerpräsidenten des Kosovo, Ramush Haradinaj, attackierte Erdogan in scharfen Worten, weil dieser als Reaktion auf die MIT-Aktion seinen Innenminister und den Geheimdienstchef entlassen hatte. Was ihm denn einfalle, Unterstützer des Putschversuchs in der Türkei zu decken, fragte Erdogan an Haradinaj gerichtet: „Dafür wirst du bezahlen!“

Die MIT-Aktion im Kosovo fand nur wenige Tage nach dem Treffen Erdogans mit den Spitzen der EU im bulgarischen Varna statt, bei dem über einen Neuanfang in den Beziehungen nach jahrelangem Streit gesprochen wurde.

Unterdessen baut die Türkei ihre enge Kooperation mit Russland systematisch aus. An diesem Dienstag wird der russische Staatschef Wladimir Putin zu einem mehrtägigen Besuch in der Türkei erwartet. Während der Visite soll unter anderem der Grundstein für den Bau des ersten türkischen Atomkraftwerkes durch russische Unternehmen gelegt werden. Am Mittwoch wollen Erdogan, Putin und der iranische Staatschef Hasan Ruhani gemeinsam über die Lage in Syrien beraten, wo die Türkei und Russland ebenfalls eng zusammenarbeiten.

Wie geht die Türkei vor?

Seit dem Putschversuch von 2016, für den Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, hat die türkische Regierung mehr als 50000 Menschen im eigenen Land festnehmen lassen. Rund 150000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Ankara argumentiert, das harte Vorgehen sei notwendig, um Gülen-Netzwerke in Behörden und Staatsorganen zu zerschlagen und einen neuen Umsturzversuch zu verhindern. Erdogan-Kritiker in der Türkei und im Westen beklagen eine undemokratische Hexenjagd auf Regierungsgegner jedweder Couleur.

Wie agiert die Türkei im Ausland?

Tausende Gülen-Anhänger und andere Erdogan-Gegner sind seit dem Putsch ins Ausland geflohen; viele von ihnen suchen Schutz in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Türkische Auslieferungsanträge werden im Westen mit großer Skepsis betrachtet. Unter anderem verweigern die USA die Auslieferung von Gülen selbst. Wie die Behörden in europäischen Ländern verweisen amerikanische Stellen auf einen Mangel an schlagkräftigen Beweisen für die Militanz des Gülen-Netzwerkes. Die Türkei kritisiert diese Zurückhaltung als Unterstützung für Terroristen.

Anders als westliche Staaten sind Regierungen in Asien und Afrika eher bereit, den türkischen Forderungen nachzukommen. Weil die Gülen-Bewegung in vielen Ländern Schulen betreibt, verlangt Ankara oft die Auslieferung des Lehrpersonals dort. Nach Angaben von Nate Shenkkan von der US-Denkfabrik Freedom House wurden in den vergangenen Jahren Gülen-Unterstützer in mindestens 15 Ländern festgenommen; in mindestens drei Ländern soll der türkische Geheimdienst MIT an der Überführung von Verdächtigen in die Türkei beteiligt gewesen sein.

Was ist neu an der Aktion im Kosovo?

Türkische Agenten haben zum ersten Mal in einem europäischen Land zugeschlagen. Der türkische Geheimdienst habe die Gülen-Leute „eingesackt“, verkündete Erdogan. Fernsehbilder zeigten, wie einige Männer an einer Überlandstraße mehrere Personen aus einem Auto zerren. Türkische Medien verbreiteten Bilder der gefesselten Gülen-Anhänger vor türkischen Fahnen; möglicherweise wurden die Aufnahmen in der türkischen Botschaft in Pristina gemacht. Wie der MIT im Kosovo ohne Zustimmung der Regierung in Pristina zuschlagen und die sechs Personen ausfliegen konnte, ist noch nicht geklärt. Sie sollen inzwischen in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis sein.

Bei Gülen-Anhängern mache sich Panik breit, meldete die Erdogan-freundliche Zeitung „Türkiye“: Sie befürchteten Festnahmeaktionen des türkischen Geheimdienstes auch in anderen Ländern.

2017 hatte sich Ankara um die Auslieferung des Basketball-Spielers Enes Kanter aus Rumänien bemüht. Dem in den USA lebenden Kanter wurde bei einem Aufenthalt in Bukarest der türkische Pass entzogen, er konnte aber später in die USA zurückkehren. In Spanien wurde der türkischstämmige Autor Dogan Akhanli aufgrund eines türkischen Auslieferungsersuchens zwei Monate lang festgehalten. Vor einigen Wochen hatten Medien in der Schweiz über die versuchte Entführung eines türkisch-schweizerischen Geschäftsmannes und Gülen-Anhängers durch türkische Diplomaten kurz nach dem Putschversuch berichtet.

Nach den Entführungen im Kosovo beklagte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die Behörden in Pristina hätten eine Überstellung der sechs Männer in ein Land zugelassen, in denen ihnen Misshandlung und Folter drohe. Shenkkan von Freedom House kritisierte in der „Washington Post“ einen „schockierenden Verstoß gegen internationale Menschenrechtsstandards und bilaterale Normen“. Kritiker werfen Ankara zudem vor, westliche Staatsbürger auf türkischem Boden festnehmen zu lassen, um sie gegen Gülen-Anhänger im Ausland austauschen zu können. Erdogan sprach bei mindestens einer Gelegenheit von der Möglichkeit, einen in der Türkei einsitzenden christlichen Geistlichen aus den USA gegen Gülen auszutauschen.

Was bedeutet das für die türkisch-europäischen Beziehungen?

Die Festnahmen im Kosovo markieren einen neuen Höhepunkt im Streit zwischen der Türkei und Europa, obwohl sich Erdogans Regierung nach eigenen Angaben um eine Wiederannäherung bemüht. Mittelfristig könnte sich die MIT-Aktion als kontraproduktiv erweisen. Schon jetzt sorgt das Abdriften des Landes in eine Autokratie für viel Kritik in der EU – nun kommt der Eindruck hinzu, das EU-Bewerberland handele wie ein Banditenstaat, der internationale Normen ignoriert. Und es dürfte für die Türkei jetzt noch schwieriger werden, europäische Richter zu überzeugen, dass Gülen-Leute nach einer Auslieferung ein faires Verfahren erwarten können.

Für Erdogans Regierung zählen solche Überlegungen derzeit offenbar nicht. Sie will Anhängern und Gegnern die Reichweite ihres Einflusses zeigen. Als Außenminister Mevlüt Cavusoglu vor einigen Tagen auf Twitter seine Bilanz für den Monat März zog, wählte er die Überschrift: „Niemand kann uns aufhalten.“

Was ist für Erdogan-Gegner im Westen jetzt zu erwarten?

Die MIT-Aktion im Kosovo zeigt, dass es Ankara nicht mehr unbedingt mit Auslieferungsanträgen an europäische Staaten bewenden lässt.

Am Montag erließ ein türkisches Gericht einen neuen Haftbefehl für den in Berlin lebenden türkischen Exiljournalisten Can Dündar, der von Erdogan öffentlich als Landesverräter beschimpft wurde. Zugleich wurde das Auslieferungsersuchen an die USA für Fethullah Gülen erneuert, dem auch die Verantwortung für den Mord an dem russischen Botschafter in Ankara, Andrei Karlow, im Dezember 2016 zur Last gelegt wird.

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