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Ursula von der Leyen (CDU) nimmt an der Sitzung des Bundeskabinetts im Bundeskanzleramt teil.

© Kay Nietfeld/dpa

Koalitionskrise nach EU-Postenpoker: Gabriels Abwehrkampf gegen von der Leyen verpufft

Nach der Von-der-Leyen-Überraschung hängt der Haussegen in der Koalition schief. Ein Ex-SPD-Chef sorgt mit einer Forderung für Wirbel - und Kritik der Union.

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Angela Merkel galt bereits vielen in Europa als „lame duck“, doch schon Gerhard Schröder sagte: „Hinten sind die Enten fett“. Und Helmut Kohl meinte: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Sie wirkt nun wie eine Gewinnerin, aber verloren im europäischen Postenpoker haben fast alle. Vor allem auch die SPD. Erst sah es so aus, als werde mithilfe von Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron mangels anderer Optionen der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans beim EU-Gipfel zum neuen EU-Kommissionspräsidenten gemacht.

Es ist eine gewisse Ironie, dass Timmermans, der Vorkämpfer gegen Nationalismus und das Aushöhlen demokratischer Prinzipien von einer osteuropäischen Allianz um den Ungarn Viktor Orban gestoppt und die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) aufs Schild gehoben wurde.

Daher ist die große Koalition nun zurück im Krisenmodus. Weil zugleich das gerade von der SPD hochgehaltene Prinzip ausgehebelt wurde, dass nur jemand EU-Kommissionspräsident werden kann, der zuvor bei der Europawahl als Spitzenkandidat sich dem Votum der Wähler gestellt hat.

Für viel Aufregung sorgte eine harsche Attacke von Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel gegen die Berufung, der seine Partei zum Koalitionsbruch aufrief. "Das ist ein beispielloser Akt der politischen Trickserei: von der Leyen muss erst von Deutschland als Kommissarin benannt werden, bevor sie von anderen Staats- und Regierungschefs als Kommissions-Präsidentin nominiert werden kann", sagte Gabriel dem Tagesspiegel. Die SPD könne das also aufhalten. "Und sie muss es aufhalten, sonst macht sie bei diesem Schmierentheater mit und die Europawahlen zur Farce." Wenn Merkel von der Leyen ohne Kabinettsbeschluss benennt, "ist das ein klarer Verstoß gegen die Regeln der Bundesregierung – und ein Grund, die Regierung zu verlassen."

"Ein einmaliger Vorgang"

Doch der Haken daran: Kommissare müssen erst von den nationalen Regierungen vorgeschlagen werden, aber der Vorschlag für das Amt des Kommissionschefs kann durch die Staats- und Regierungschefs erfolgen. Somit ist das korrekt gelaufen – Merkel rief aus Brüssel Scholz an, der koppelte sich bei der SPD-Spitze zurück und übermittelte Merkel das Nein. Sie enthielt sich, während die anderen EU-Staats- und Regierungschefs zustimmten.

Der Präsident oder die Präsidentin der Kommission werde – anders als die sonstigen EU-Kommissare – nicht von den nationalen Regierungen benannt, sondern vom Europäischen Rat, stellte Merkels Sprecher Steffen Seibert klar. "Dieser Pflicht ist er gestern nach intensivsten Beratungen nachgekommen", sagte er. Die Entscheidung über von der Leyens Kandidatur für den Spitzenposten liege nun beim Europäischen Parlament. "Es ist nicht die Aufgabe einer nationalen Regierung, dem Europäischen Parlament einen Vorschlag zu machen", sagte Seibert.

„Das ist ein einmaliger Vorgang, dass Deutschland nicht zustimmen konnte, obwohl es eine deutsche Kandidatin gibt“ wettert nun CSU-Chef Markus Söder. Dies sei eine echte Belastung für die große Koalition. „Die SPD macht damit deutlich, dass es ihr am Ende um das eigene parteipolitische Interesse geht. Nicht um Europa, und auch nicht um die Interessen Deutschlands“, kritisiert CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Es droht also neues Ungemacht. Und das, obwohl in der Sache die Lösung eine gute sein könnte. Erstmals soll eine Frau EU-Kommissionschefin werden. Noch dazu die erste deutsche Spitze Europas seit Walter Hallstein 1958. Allerdings zu einen Preis: der Schwächung des Europaparlaments.

Aber die Empörung der SPD passte gar nicht zu Bildern und Berichten aus der Kabinettssitzung am Mittwoch nach dem Coup von Brüssel, da gab es freundliche Worte und Glückwünsche für die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Für Merkels dienstälteste Ministerin heißt es künftig Brüssel statt Bundeswehr-Ärger, in Europa wird jetzt sicher nochmal die Erfolgsgeschichte der so disziplinierten, siebenfachen Mutter erzählt, die Englisch wie Französisch fließend spricht.

Doppelte Frauenpower

Im Ergebnis bekommt Europa an der Spitze doppelte Frauenpower: Neben der in Brüssel geborenen, überzeugten Europäerin Von der Leyen wird mit der Französin Christine Lagarde eine Frau die Europäische Zentralbank führen, die als Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF) viel Ansehen gewonnen hat, gerade auch durch einen Ausgleich der Interessen zwischen kleinen und großen Ländern. Vorausgesetzt das Europaparlament stimmt noch zu. Das Parlament hat auch selbst versagt, weil es keinen mehrheitsfähigen Vorschlag für den Posten des Kommissionspräsidenten machen konnte.

Aber weder Manfred Weber von der CSU, noch Timmermans oder die Liberale Margrethe Vestager waren mehrheitsfähig. "Dass nun keiner dieser drei Politiker zum Zuge kommen soll, (...) kann nicht überzeugen. Damit würde der Versuch, die Europäische Union zu demokratisieren, ad absurdum geführt“, erklärten die drei Interims-SPD-Chefs Thorsten Schäfer-Gümbel, Malu Dreyer und Manuela Schwesig. Deswegen lehne die SPD das ab. Aber wenn das Europaparlament von der Leyen durchwinkt, will man sich damit arrangieren. Aus dem Nein folgt also nichts. An Koalitionsbruch ist nicht gedacht, um Europa nicht ins Chaos zu stürzen.

Aber die Koalition könnte der Streit weiter destabilisieren – am 1. September stehen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg an, zudem soll es einen Herbst der Entscheidungen geben, ein großes Klimaschutzpaket ist geplant, dazu soll eine Einigung bei der Grundrente für Geringverdiener gelingen.

Auf den falschen Kandidaten gesetzt

Merkels Kardinalfehler in dem denkwürdigen Postenpoker: Auf den falschen, nicht mehrheitsfähigen Kandidaten gesetzt (Weber) zu haben, und dann Timmermans auch nicht durchsetzen können. Von der Leyen wurde von der SPD immer wieder wegen ihrer Amtsführung und der Berateraffäre im Verteidigungsministerium kritisiert, nun wird sie plötzlich zur EU-Regierungschefin befördert.

Der ehemalige Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), hatte 2014 das Spitzenkandidatenprinzip federführend mit entwickelt – und im Koalitionsvertrag hatte die SPD das Thema Europa und eine stärkere Demokratisierung an die erste Stelle gesetzt – daher hat es für die Partei der Streit eine so große Bedeutung. Es geht ums Prinzip.

Aber inhaltlich ist Von der Leyen der SPD in der Europolitik eigentlich näher als Merkel. 2012 nannte sie als ihre Vision die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Etwas das die SPD schon im Heidelberger Programm von 1925 stehen hatte. Und auch das ist eine Ironie: Orban hat Timmermans verhindert – aber eine nicht minder überzeugte Vorkämpferin für ein starkes, liberale und weltoffenes Europa bekommen, die nun auch Wladimir Putin und Donald Trump die Stirn bieten soll.

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