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Klaus Lederer (Die Linke) ist Kultur- und Europasenator von Berlin.

© Mike Wolff

Klaus Lederer über die Hoffnung auf einen Kultursommer: „Der arme Poet ist nicht mein Leitbild des kreativen Künstlers“

Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) über identitätspolitische Debatten, moralischen Druck und die Kunst zu Corona-Zeiten.

Herr Lederer, die letzten Wahlergebnisse und Umfragen sind nicht ermutigend für sie als Berliner Spitzenkandidat der Linken. Hat Sahra Wagenknecht mit ihrer Kritik an der identitätspolitischen Ausrichtung der Partei vielleicht Recht?
Ich finde, sie sucht sich die falsche Baustelle. Emanzipatorische Debatten sind absolut notwendig. Sie müssen aber zusammen geführt werden mit den Debatten über gesellschaftliche Ungleichheit, dann verstärken sich beiden gegenseitig.

Harvey Milk ist als erster schwuler Stadtrat von San Francisco nicht deswegen so stark gewesen, weil er nur für die Rechte der Homosexuellen gekämpft hat, sondern weil er Verbindungen geschaffen hat zu allen marginalisierten Gruppen, auch zur Arbeiterklasse, den sozial und ökonomisch Benachteiligten. Wagenknecht macht leider das, was sie anderen vorwirft: nämlich Debatten, die miteinander verbunden sind, gegeneinander zu verhandeln.

Mehrere Mitglieder haben ein Parteiausschlussverfahren beantragt.
Ich halte nichts davon, politische Differenzen administrativ auszutragen.

Schaden die identitätspolitischen Debatten der Linken?
„Identitätspolitik“ ist ja ein Sammelbegriff. Worum aber geht es denn eigentlich: Es geht um Anerkennung und Gleichberechtigung, um gleiche Zugänge und ein Leben frei von Diskriminierung. Der Begriff Identitätspolitik muss inzwischen herhalten, um unangenehme Debatten aus der Perspektive der privilegierten Mehrheitsgesellschaft beiseite zu schieben.

Individuelle Betroffenheiten, individuelle Perspektiven sind ein wichtiger Ausgangspunkt für Debatten, aber es muss ein kommunikativer Austausch möglich bleiben, sonst werden alle auf sich selbst zurückgeworfen. Dann schadet das nicht nur der Linken, sondern der gesamten Gesellschaft. Sozioökonomische Fragen, also Fragen von sozialer Teilhabe, dürfen nicht ausgeblendet werden.

[Mehr zum Thema: Sahra Wagenknecht über linke Großstädter:„Auf Menschen, die anders leben, wird herabgesehen“ (T+)]

Verwenden Sie das Wort „Indianer“, für dessen Gebrauch sich die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch entschuldigt hat?
Das ist ja eine pauschalisierende Festlegung für völlig unterschiedliche Gruppen und eine europäische Fremdbeschreibung. Es gehört deshalb heute nicht mehr zu meinem Sprachschatz.

Künstlern wird zunehmend kulturelle Aneignung vorgeworfen. Wie gehen Sie damit um?
In meiner Wahrnehmung ist das keine zentrale Debatte. Die Produktion von Kunst ist immer auch ein Stück weit Aneignung. Die Frage ist, welche strukturellen Ungleichheiten durch diese Aneignung zementiert oder aufgebrochen werden können. Joe Biden, beispielsweise, hat sich die Kunst von Amanda Gorman angeeignet, als er sie bei seiner Inaugurationsfeier ein Gedicht vortragen ließ, weil er mit dem Auftritt einer jungen, schwarzen Frau auch ein politisches Zeichen setzen wollte.

Es entstand eine Debatte darum, ob es angemessen ist, wenn eine weiße Frau dieses Gedicht übersetzt. Aber die eigentliche Frage ist doch nicht, welches Individuum was übersetzen darf, sondern mit welchen strukturellen Veränderungen die existierende Unterrepräsentanz von Schwarzen und anderen aufgelöst werden kann, alle die gleichen Chancen und Zugänge haben.

Im Konflikt um das umstrittene Gomringer-Gedicht „Avenidas“ an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule waren Sie dagegen, es zu überstreichen. Warum?
Es ist ein Kunstwerk, und das entwickelt eine Eigendynamik, löst sich ab vom Erschaffer. Wer sich das Gedicht durchliest, kann vieles darin finden – auch den Lustgreis, der am Straßenrand sitzen und den jungen Mädels hinterher glotzt. Das ist eine Deutung, keine zwingende. Es darauf zu reduzieren wird dem Kunstwerk nicht gerecht.

Die Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf.
Die Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf.

© David von Becker/ASH Berlin/dpa

Der Vorwurf war, dass das Gedicht sexistisch sei.
Es ist nicht kompliziert, zu unterscheiden: Das eine ist die künstlerische Ausdrucksform, bei einem Gedicht, einem Gemälde, einem Theaterstück. Und etwas anderes ist es, wenn beispielsweise ein Regisseur oder Intendant oder sonst wer übergriffig wird.

Gibt es Tendenzen in der Kultur, die traditionell eher „links“ stand, aus Protest gegen die gegenwärtige Politik nach rechts zu rücken?
Kultur hielt sich immer für besonders prädestiniert, gesellschaftliche Missstände, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Benachteiligung in besonderer Weise zu verhandeln. Aber daraus resultiert noch keine Zwangsläufigkeit, dass das ganze breite Feld der Kultur eine politische Tendenz hätte. Heute erleben wir in der Gesellschaft eine Polarisierung der Debatten, bei der sich viele herausgefordert sehen, ein Fanal zu setzen und manchmal zu überziehen.

Sie meinen eine Aktion wie #allesdichtmachen? Das war ja ein fundamentaler Protest auch gegen Ihre Politik und Medien wie uns in der Corona-Krise.
Ich habe selbst viele Maßnahmen kritisiert, unter anderem im Tagesspiegel. Ich fand es zum Beispiel völlig daneben, den kompletten Sektor der Künste wie eine allgemeine Freizeitbeschäftigung zu behandeln, wie einen Spaß, auf den wir jetzt eben mal verzichten müssten, während das Zerlegen von Schweinehälften selbstverständlich unangetastet blieb.

Ein gut belüfteter Theatersaal mit einem getesteten, Masken-tragenden Publikum wäre jedenfalls immer sicherer gewesen als ein durchschnittliches Großraumbüro. Natürlich erfordert eine Pandemie einschneidende politische Maßnahmen.

Was mich aber gestört hat, das war diese abkanzelnde Art, den Leuten mit der Attitüde der Unfehlbarkeit etwas als alternativlos vorzuschreiben unter Berufung auf die Wissenschaft, und wer etwas dagegen sagt, der driftet dann angeblich ab ins Lager der Leugner. Aber die Wissenschaft stellt Befunde bereit, die Schlussfolgerungen zieht dann die Politik, und das waren hier vor allem die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten.

Eine Kombo aus einzelnen Video-Standbildern der Internetaktion #allesdichtmachen via Youtube.
Eine Kombo aus einzelnen Video-Standbildern der Internetaktion #allesdichtmachen via Youtube.

© dpa

Frank Castorf kritisierte, er möchte sich nicht von Angela Merkel sagen lassen, wie er sich die Hände zu waschen habe.

Die Regierenden haben Ansagen gemacht, nicht um die Menschen geworben, Bürgerinnen und Bürger nicht zu Verbündeten in der Pandemiebekämpfung gemacht, sondern sie wurden zu Empfängern von Geboten gemacht. Wer moralisch appelliert, und gleichzeitig aus der Not ein Geschäft macht, wie einige in der Unionsfraktion, macht sich unglaubwürdig und handelt verwerflich. Mich hat das schockiert.

Auch der Senat hat einen hohen moralischen Ton angeschlagen.
Ja, auch bei uns gab es solche Tendenzen. Anstatt auf Aufklärung zu setzen, wurde moralischer Druck aufgebaut. Wer sich nicht an die Regeln hielt, etwa bei Schlauchboot-Partys oder Raves in der Hasenheide, auf den wurde mit dem Finger gezeigt. Das hat etwas von schwarzer Pädagogik, und so etwas erschöpft sich rasch. Mehr Wissen zu vermitteln mit dem Ziel, dass die Leute sich in eigener Verantwortung vernünftig verhalten können, dazu mehr Pragmatismus, das wäre besser gewesen als simple Schuldzuweisungen.

Mit Ängsten zu agieren, ist ein typisches Merkmal populistischer Politik.
Ja, das ist so. Aber auch in unserer demokratischen Gesellschaft spielt populistische Politik zunehmend eine Rolle.

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Es verging kaum ein Tag, an dem nicht in Talkshows und in anderen Medien die Maßnahmen diskutiert und kritisiert wurden, von Wissenschaftlern, von Politikern, von Journalisten. Wie erklären Sie sich den Eindruck, der bei #allesdichtmachen verbreitet wurde, dass keine ernsthafte Debatte möglich war?
Wir haben inzwischen sehr ausdifferenzierte Informations- und Kommunikationsblasen, das ist alles extrem zerfasert. Das gab es allerdings auch schon vor Corona, nur hat sich das jetzt noch verschärft. Die Frage ist, wie wir bei gesellschaftlichen Debatten den Horizont wieder stärker öffnen können, anstatt ihn zu verengen. Das beschäftigt mich schon sehr lange.

Lässt sich sagen, welche kulturellen Bereiche am härtesten betroffen waren?
Ganz klar die Freiberufler*innen und Selbstständigen, denen von heute auf morgen sämtliche Einnahmen weggebrochen sind – zumal dann, wenn sie ohne soziale Absicherung gearbeitet haben. Aber auch dort, wo die Kultur untrennbar mit körperlicher Nähe und starker Atemaktivität in kleinen Räumen verbunden ist, bei Chören zum Beispiel, war es hart. Das betrifft natürlich auch die Clubs und damit eine Szene, für die Berlin international bekannt ist.

[Mehr zum Thema: Schweinkram hinter verschlossener Tür: Im Berlinale-Gewinnerfilm wird der Sex politisch (T+)]

Lässt sich der finanzielle Schaden schätzen?
Das geht in die Milliarden. Die Kulturlandschaft Berlins hat ja eine riesige Anziehungskraft, ist ein großer Wirtschaftsfaktor. Wo hoch die substanziellen Schäden sind, also die Frage, was nach der Pandemie übrig ist, das lässt sich momentan kaum sagen. Ich hoffe, dass sich nicht zu viele Künstlerinnen und Künstler in ihrer Not ganz aus der Kultur verabschiedet haben. Die großen Kulturinstitutionen, private wie öffentliche, sind meines Erachtens auch durch die staatlichen Hilfen mit einem großen Schreck davongekommen.

Lebt Kultur nicht auch von der Erneuerung, die durch große Umbrüche hervorgerufen wird?
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass künstlerische Hochleistungen nur dort entstehen, wo die Leute am Hungertuch nagen. Der arme Poet ist nicht mein Leitbild des kreativen Künstlers. Kunst ist Arbeit. Arbeit braucht Lohn, auch einen anständigen, bezahlbaren Wohnraum. Und deswegen ist die Debatte über Mindeststandards in der Kulturförderung so wichtig. Aber es stimmt schon, dass in der quirligen, freien Kulturszene größere Unsicherheit verbreitet ist als im oft schwerfälligen institutionellen Bereich.

Ohne den Zusammenbruch der DDR und die dadurch freiwerdenden Räume hätte es die Clubkultur in Berlin so wohl nicht gegeben.
Jede gesellschaftliche Umbruchsituation trägt auch den Keim für Neues in sich. Insofern wünsche ich mir durchaus, dass auch kulturell nach der Pandemie wieder neue Dinge entstehen. Aber Kunst braucht beides: Kontinuitäten und Brüche. Kunst muss nicht permanent alles auf den Kopf stellen und völlig neue Impulse erzeugen. Kunst kann auch einfach die wunderbare Interpretation von etwas Altem sein.

Jenseits von Zuschüssen: Was kann die Politik tun, um der Kultur wieder aufzuhelfen?
Solange wir keinen Normalzustand haben, braucht es ein starkes Sicherungsnetz. Dazu gehören Stipendien, Hilfen bei der Anschaffung von Lüftungsanlagen, Überbrückung von Ausfällen, Unterstützung bei pandemiebedingten zusätzlichen Aufwendungen. Wir koordinieren hier aber gerade auch mit einem ziemlichen Aufwand Kulturveranstaltungen im Freien, identifizieren gemeinsam mit den Bezirken Orte, die ohne großen Aufwand bespielt werden können, solange Innenräume nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Wir stellen die Infrastruktur zur Verfügung und ermöglichen ein kuratiertes künstlerisches Angebot. Das soll unkompliziert sein und vor allem Spaß machen. 

Das gefällt nicht allen, wie zu hören ist. Geklagt wird unter anderem über die zu erwartende Geräuschkulisse. Und auch die Verwaltung steht dem einen oder anderen Kulturereignis mit einer komplexen Genehmigungspraxis im Weg.
Das stimmt leider, die Struktur von Verwaltung ist per se nicht auf eine Ausnahmesituation ausgerichtet. Und das Bedürfnis von Leuten, die nach einem harten Arbeitstag nach Hause kommen, nicht die ganze Nacht über mit tiefen Frequenzen beschallt zu werden, ist legitim.

Es ist auch ein legitimes Anliegen, Grünflächen vor der kompletten Übernutzung zu bewahren. Aber gerade deshalb ist jetzt eine kluge, lösungsorientierte Verwaltung gefragt. Berlin hat durchaus auch in der Innenstadt Orte, an denen eine Kulturveranstaltung niemanden stört, und nicht jede Grünfläche ist ein Gartendenkmal. Es wäre schön, jetzt dort pragmatisch den Weg frei zu machen.

Nach monatelangem Lockdown zieht das warme Wetter die Berliner jetzt massenhaft in die Parks.
Nach monatelangem Lockdown zieht das warme Wetter die Berliner jetzt massenhaft in die Parks.

© dpa

Also nach dem Winterlockdown ein Sommer der kulturellen Anarchie?
Eher ein Sommer des gegenseitigen Verständnisses, ein Sommer der kreativen Lösungssuche, ein Sommer der Ermöglichung. Daran arbeiten wir jetzt seit letztem Herbst. Bei Hindernissen geben wir nicht auf, sondern versuchen zu moderieren. Die Leute wollen nach der grauen Zeit wieder ihr Ding machen, einander begegnen, auf Außenflächen tanzen. Das muss doch mal möglich sein ohne großen Genehmigungsaufwand.

Wann soll das starten? Wir haben immerhin bereits Mitte Juni.
Anfang Juli geht das sukzessive los, und etwas später kommt unser Förderprogramme noch dazu. Wir haben bereits zehn kuratierte Flächen, wo den ganzen Sommer über Veranstaltungen stattfinden können. Es kommen weitere zwanzig Flächen dazu, auf man sich bewerben kann. Es laufen schon Workshops, bei denen Kulturanbieter lernen, wie sie schnell eine Genehmigung erhalten.

Und die Orte verteilen sich über die ganze Stadt?
Das wäre schön. Aber aus manchen Bezirken haben wir überhaupt kein Feedback bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es z.B. in Reinickendorf nicht eine einzige Fläche gibt, die wir im Sommer bespielen könnten. Das ist einfach nur Unwille oder Überlastung nach dem Motto: Lasst uns in Ruhe mit dem Kram. Offenbar wird Draußen-Kultur da als Störung oder Zumutung gesehen.

Falls es mit Ihrer Kandidatur als Regierender Bürgermeister nicht klappen sollte, wonach es ja derzeit aussieht, würden Sie dann gerne noch eine Zugabe als Kultursenator geben?
Ich bin angetreten als Spitzenkandidat meiner Partei und hoffe, dass wir ein ordentliches Ergebnis bekommen. Das wäre auch die Voraussetzung dafür, mit Grünen und Sozialdemokraten über eine Fortsetzung der Koalition zu sprechen. Dass mir das, was ich gerade mache, sehr viel Spaß macht, ist ja kein Geheimnis. Es ist eine extrem spannende, wenn auch anstrengende, aber sehr erfüllende Herausforderung.

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