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Die Stadtkirche in der Lutherstadt Wittenberg, an der das Schmährelief außen angebracht ist.

© IMAGO/Christian Schroedter

Klage gegen antisemitische Schmähung scheitert: Die Kirche muss zeigen, wie sie sich von falschen Traditionen löst

Den Rechtsstreit um die Abnahme der Wittenberger „Judensau“ hat die örtliche Gemeinde gewonnen. Aber gelöst ist damit nichts, im Gegenteil. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Manche Klagen vor Gericht sind erfolgreich, auch wenn sie scheitern. So verhält es sich mit dem Versuch eines jüdischen Mitbürgers, ein antisemitisches Schmährelief von der Fassade der Wittenberger Stadtkirche entfernen zu lassen.

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Als „Judensau“ wird das aus dem Mittelalter geläufige und in der Gegenwartsöffentlichkeit gleichwohl wenig bekannte Motiv bezeichnet, das Juden zeigt, wie sie auf Schweinen reiten oder an ihren Zitzen saugen. Im Judentum gelten Schweine als unreine Tiere. Es handelt sich daher um ein ebenso bloßstellendes wie verabscheuungswürdiges Zeugnis eines christlichen Antisemitismus, der im späten Martin Luther, der in der Wittenberger Kirche predigte, einen herausragenden Protagonisten fand.

Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, das Bildwerk dürfe an Ort und Stelle bleiben. Aus ihm sei ein Mahnmal geworden, den ursprünglichen Charakter einer Beleidigung habe es verloren; der „rechtsverletzende Aussagegehalt“ sei durch ergänzende Tafeln und Hinweise auf den unseligen Ursprung des Reliefs beseitigt worden.

Eine Abweisung, aber kein verlorener Prozess.

Eine Abweisung, aber kein verlorener Prozess. Denn die Richter machen deutlich, dass jeder Einzelfall in seinem ganz konkreten Kontext zu betrachten ist. Reicht die Distanzierung nicht aus, bleibt das judenfeindliche Hetzbild, was es immer war: eben dies. Zudem lenkt die Klage die Aufmerksamkeit darauf, dass es nirgendwo in Europa so viele davon gibt wie in Deutschland.

Das Urteil sollte deshalb ein Anlass für die hiesigen christlichen Gemeinden sein, die Schmähungen an und in ihren Gotteshäusern mit selbstkritischer Schärfe in den Blick zu nehmen. Natürlich ist das farbige Fenster des Künstlers Gerhard Richter ein Highlight, das den Besuch des Kölner Doms lohnt; dass im Chorgestühl eine „Judensau“ geschnitzt ist, wird dort jedoch als Fußnote behandelt. Warum nur?

Der christlich-religiöse Judenhass hat den Holocaust mit ermöglicht

Man vertut die Chance, sich mit der eigenen Geschichte in angemessener Weise auseinanderzusetzen. Angemessen heißt: Zu zeigen und sich dazu zu bekennen, dass der im Christentum jahrhundertelang propagierte Judenhass den Holocaust mit ermöglicht hat; dass Antisemitismus zu einer verirrten Kirchentradition gehört und heute alles dafür getan wird, sich von ihr zu lösen. Immerhin sind an der Wittenberger Stadtkirche in den achtziger Jahren Bronzeplatten mit Inschriften verlegt worden, die auf diese Verantwortlichkeit Bezug nehmen.

Mancherorts scheinen die Kirchenvertreter solche Einsicht noch vor sich zu haben. Oder sie denken, sie hätten alles Nötige irgendwann und irgendwo schon getan. Doch selbst wenn es Tafeln und Hinweise gibt: Sind sie aktuell? Entsprechen sie dem Forschungsstand und dem Vorverständnis in der Bevölkerung? Hier haben die Kirchen eine Aufgabe, die sie dank der Klage vor dem Bundesgerichtshof ernster nehmen sollten als bisher.

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