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Bekenntnis. DFB-Pokalfinale 2006 im Berliner Olympiastadion. Luzio und ZeRoberto mit einem Jesus-Plakat nach dem Spiel.

© Kai-Uwe Heinrich

Kirchenaustritte auf historischem Höchststand: Deutschland nimmt Abschied von Gott

Mehr als eine halbe Million Christen haben 2019 die Kirchen verlassen – mehr als je zuvor. Ein globaler Glaube für globale Menschen muss her. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ging eine Schockwelle durchs Land? Hörten Kommentatoren Alarmglocken läuten? Nein. Stattdessen: Apathie, Ratlosigkeit, Verdrängung, Ignoranz. Vielleicht haben sich ja alle schon abgefunden mit dem „Ende der Volkskirchen“, mit der Bedeutungslosigkeit von christlicher Religion. Manchmal ist auch Sprachlosigkeit ein Symptom.

Am vergangenen Freitag wurde berichtet, dass sich die Kirchenaustritte in Deutschland auf einem historischen Höchststand befinden. Mehr als eine halbe Million Katholiken und Protestanten – 540.000 – traten 2019 aus ihren Glaubensgemeinschaften aus, mehr als je zuvor. Der Missbrauchsskandal wird für den Exodus verantwortlich gemacht und eine stetige Erosion der persönlichen Kirchenbindung.

Die Zahlen bestätigen einen offenbar unaufhaltsamen Trend. Bereits im Mai vergangenen Jahres hatte eine Studie, die im Auftrag der christlichen Kirchen erstellt worden war, eine Halbierung der Zahl der Christen in Deutschland bis zum Jahr 2060 prognostiziert – von rund 44 Millionen heute auf dann 22 Millionen. Auch damals ebbte die Aufregung schnell ab. Gibt Kirche sich auf?

Drastischer Einbruch bei der Kirchensteuer

Im Jahr 1950 gehörten mehr als 95 Prozent der Deutschen in Ost und West einer der beiden christlichen Konfessionen an. Nach der Wiedervereinigung waren es 72 Prozent, heute sind es 51 Prozent. Seit vielen Jahren rückläufig sind auch die Zahlen von Taufen, Konfirmationen, Kommunionen, Firmungen, Gottesdienstbesuchen, christlichen Hochzeiten. Für dieses Jahr wird wegen der Folgen der Coronakrise ein drastischer Einbruch bei der Kirchensteuer erwartet.

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Freilich manifestiert sich ein christlicher Selbstbehauptungswille. Die Frage „Wie sehr ist Deutschland durch das Christentum und christliche Werte geprägt?“ bejahen inzwischen zwei Drittel der Befragten, vor acht Jahren war es nur knapp die Hälfte. Doch das hat mehr mit Kulturstolz als mit Religiosität zu tun.

Was tun die Verantwortlichen, die Kirchen-Oberen? Vielleicht nicht nichts, aber zu wenig. Da geht kein Ruck durch die Gemeinschaft der Gläubigen, kein leidenschaftlich geführter Wettstreit ist darüber entbrannt, wer die beste Vision für künftiges christliches Leben in Deutschland hat. Das Fundament bricht weg, die Strukturen sollen unangetastet bleiben. Das kann nicht funktionieren.

Gedenkstätte für die Opfer des Massakers in Pittsburgh 2018.
Gedenkstätte für die Opfer des Massakers in Pittsburgh 2018.

© Jeff Swensen/Getty Images/AFP

Entwicklung einer einfachen Sprache

Was ist zu tun? In Kurzform: Trennung von Althergebrachtem, Konzentration aufs Wesentliche, Entwicklung einer einfachen Sprache, Traditionsentschlackung, Stärkung der großen Ökumene, grenzüberschreitende Verkündigung.

Alles gehört geprüft. Keine Frage darf als zu radikal abgetan werden. Geht nicht? Gibt’s nicht. Brauchen die Kirchen wirklich Dutzende Akademien, um politische Erwachsenenbildung zu fördern? Hat sich das Mediatorenwesen zur kircheninternen Streitschlichtung zu sehr ausgeweitet? Was darf Mission kosten? Von welchen Gebäuden muss Abschied genommen werden?

Auf bessere Zeiten zu hoffen, wäre naiv. Wer nicht jetzt die kirchlichen Kernaufgaben neu definiert – und Verzichtbares klar benennt –, versündigt sich an der künftigen Generation.

Kein Wissen um Liturgie, Liedgut, Lehre

Der Fokus muss weiterhin auf Diakonie, Gottesdienst und Gemeindearbeit liegen. Sie sind die Basis jeder organisierten religiösen Existenz. Deren Ausgestaltung muss allerdings den Wandel reflektieren. Gottesdienste werden zunehmend in einem konfessionslosen gesellschaftlichen Raum gefeiert. Folglich sollten sie traditionsentschlackt gestaltet sein. Weil kaum noch etwas da ist, an das angeknüpft werden kann – kein Wissen um Liturgie, Liedgut, Lehre -, muss eine neue, einfache Sprache für die Vermittlung des Glaubens gefunden werden.

Vermeintlich identitätsstiftende Unterschiede sind anachronistisch. Dass es bis heute zwei evangelische Gottesdienst-Ordnungen gibt, eine lutherische, eine reformatorische, ist antiquiert. Wer neu zum Glauben finden will, darf durch historisch gewachsenen Verkündigungsballast nicht abgeschreckt werden.

In Deutschland steigt die Zahl der Konvertiten, zum Beispiel aus dem Iran. Orthodoxe Christen aus dem Irak, Syrien und Eritrea sind gekommen. Wegen des Priestermangels in der katholischen Kirche wird die Messe oft von Geistlichen aus dem Ausland gehalten. Daraus folgt: Schrumpfende Kirchen müssen sich spirituell öffnen.

Gesang, Gebet, Predigt, Abendmahl

In Afrika und Asien, wo das Christentum wächst, ist es oft pfingstkirchlich, charismatisch und evangelikal geprägt. Der deutsche Igitt-Reflex diesen Strömungen gegenüber hat oft etwas intellektuell Überhebliches. Er sollte zugunsten größerer Neugier gedämpft werden.

Gesang, Gebet, Predigt, Abendmahl: Wenn diese vier Elemente eine konfessionsübergreifende, wiedererkennbare Einheit bilden, kann Gemeinde mobil werden, mobiler sein. Je ähnlicher sich die Arten der Verkündigung sind, desto unabhängiger sind die Gläubigen von Raum und Zeit.

In einer zusammenwachsenden Welt sind Christen nicht nur dazu aufgerufen, einander Heimat zu bieten, sondern auch den Gläubigen anderer Religionen. Die Expansion areligiöser Milieus muss religiöse Menschen über konfessionelle Grenzen hinweg verbinden. Wer steht einem frommen Christen näher – ein gläubiger Muslim oder ein atheistischer Deutscher? Mit wem teilt er eine Erfahrungswelt?

Der Hass richtet sich auch gegen Frommheit

Der Glaube sprengt Nationalismen. Er steht über Volk und Vaterland. In vielen durch Säkularisierungsdruck verursachten Disputen – von Beschneidungs-, Schächtungs-, Verschleierungs- und Minarettbau-Verbotsinitiativen bis zum Rechtsradikalismus – hat sich in Deutschland eine große Ökumene aus Juden, Muslimen und Christen gebildet.

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Sie hält auch, wenn überall auf der Welt Menschen wegen ihres Glaubens angegriffen werden. Anschläge auf Synagogen, Moscheen und Kirchen haben in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. 2015 auf Christen in Charleston, 2017 auf Muslime in Quebec, 2018 auf Juden in Pittsburgh. Es folgten die Massenmorde von Christchurch und auf Sri Lanka. Der Hass richtet sich auch gegen Frommheit an sich, gegen Glaube und Spiritualität.

Ein globaler Glaube für globale Menschen: Die Notwendigkeit einer transnationalen Glaubenssprache endet allerdings nicht beim Verkündigungsinhalt, sondern umfasst auch dessen Art, das Medium. Der klassische Gottesdienst orientiert sich an der physischen Präsenz einer Gemeinde. Doch nicht erst seit der Coronakrise sind hybride, virtuelle Formate hinzugekommen. Die Reichweite digitaler Gottesdienste war beachtlich. Um Gehör zu finden, muss sich Kirche noch stärker als bislang auf moderne Kommunikationsmethoden einlassen. Keine Angst vor christlichen Influencern!

Zeichen der Barmherzigkeit

Wenn Kardinal Reinhard Marx und Bischof Heinrich Bedford-Strohm sich um Flüchtlinge kümmern, die im Mittelmeer vom Ertrinken bedroht sind, ist das aller Ehren wert. Für die Nöte der Ärmsten der Armen müssen Christen alle Zeit offen sein.

Das beinhaltet allerdings den Willen, christliches Leben unter neuen Bedingungen so fest in der Gesellschaft zu verankern, dass auch in zwanzig Jahren noch Flüchtlingsarbeit möglich ist. Eine Kirche, die sich nicht nachhaltig organisiert, läuft Gefahr, dass demonstrative Zeichen der Barmherzigkeit als ein letztes Aufbäumen missverstanden werden.

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