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Kinder in Brandenburg mit dem Fahrrad unterwegs zur Schule.

© Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild

Kindergeld für EU-Ausländer: Die meisten Kinder leben in Deutschland

Regierung und Kommunalverbände wollen Kindergeld für EU-Ausländer einschränken, wenn Kinder im Ausland leben. Doch die Situation ist nicht so dramatisch wie dargestellt. Eine Analyse

Wer als EU-Ausländer in Deutschland arbeitet oder seinen Wohnsitz hat, bekommt für seine Kinder in aller Regel das deutsche Kindergeld. Das ist auch der Fall, wenn die Kinder nicht in Deutschland, sondern im Herkunftsland leben. Die Zahl aller im EU-Ausland lebenden Kinder ist im ersten Halbjahr um etwa zehn Prozent gestiegen. Nach einer Aufstellung der Bundesagentur für Arbeit, die das Bundesfinanzministerium am Donnerstag veröffentlichte, lag sie Ende Juni bei insgesamt 268.336. Davon entfielen aber nur knapp 236.000 auf EU-Ausländer. Denn mehr als 31.000 sind Kinder von Deutschen, die im EU-Ausland leben. Insgesamt wird für 1,04 Millionen Kinder von EU-Ausländern Kindergeld gezahlt (bei gut 12 Millionen deutschen Kindern). 2014 lag die Zahl der Kinder, die im EU-Ausland lebten und für die Kindergeld bezogen wurde, bei gut 160.000.

So die nackten Zahlen und ihre Entwicklung. Eine Erklärung dafür ist einfach: Viele EU-Ausländer leben und arbeiten in Deutschland nur saisonal, ob nun in der Baubranche, der Landwirtschaft, Pflege oder der Gastronomie, und haben keinen dauerhaften Umzug mit der ganzen Familie vor. Dass es in jedem Jahr mehr geworden sind, zumal seit der vollständigen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für die osteuropäischen Neumitglieder ab 2011, lässt sich mit der stetig besseren Konjunktur und der gestiegenen Nachfrage nach Arbeitskräften erklären.

Regierung gegen Brüssel

Warum diese an sich wenig spektakuläre Halbjahresrechnung am Donnerstag zum großen Nachrichtenthema wurde, hat einen Grund, der einige Jahre zurückreicht. Schon die vorige große Koalition wollte bei der Europäischen Union erreichen, dass weniger Kindergeld ausgezahlt werden soll, wenn Kinder im EU-Ausland leben.

Vor anderthalb Jahren hatte der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einen Kabinettsbeschluss vorbereitet, wonach das Kindergeld für EU-Ausländer auf das Niveau ihrer Heimatländer abgesenkt werden sollte. Doch verzichteten Union und SPD damals auf einen Gesetzentwurf aus europarechtlichen Gründen – die EU-Kommission hatte durchblicken lassen, dass sie darin eine Diskriminierung der EU-Ausländer sehe. In den Koalitionsvertrag im März nahm Schwarz-Rot nun das Ansinnen wieder auf. Ein Sprecher von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte, „dass die Bundesregierung sich für eine europäische Lösung einsetzt, die die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Mitgliedstaaten bei der Zahlung von Familienleistungen berücksichtigt“.
Kindergeld ist keine Sozialleistung, sondern steuerlich und familienpolitisch begründet. Es wird allen Eltern gewährt (bei Wohlhabenderen über den Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer). So haben auch alle EU-Bürger einen Anspruch darauf, die in Deutschland leben und wegen der Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt hier wie Inländer behandelt werden. Und darüber hinaus alle anderen Ausländer, die einer Arbeit nachgehen und Steuern zahlen, Rente beziehen oder Sozialleistungen, weil sie gearbeitet haben.

"Nicht unmenschlich"

Der Deutsche Städtetag stützt das Anliegen der Regierung. „Das Kindergeld sollte sich daran orientieren, was Kinder in ihrem tatsächlichen Aufenthaltsland brauchen und nicht die Höhe aufweisen, die in einem anderen Land am Wohnsitz ihrer Eltern gezahlt wird“, sagte Städtetags- Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy der Deutschen Presse-Agentur. Die Bundesregierung sollte auf EU-Ebene weiter eine entsprechende Änderung durchzusetzen versuchen, so Dedy. „Nach meinem Eindruck ist es nicht unmenschlich, in den Fällen, in denen jemand in Deutschland arbeitet, seine Kinder aber in Rumänien leben, Kindergeld nach rumänischem Niveau zu zahlen.

Dedy warnte zugleich vor Stimmungsmache. „Die meisten Menschen aus Südosteuropa sind in Deutschland gut integriert.“ In einigen Städten gebe es jedoch Schwierigkeiten mit sozial schwer integrierbaren Familien, die häufig aus Rumänien und Bulgarien kämen. „Ein Aspekt dabei sind Kindergeld-Zahlungen für Kinder, die nicht in Deutschland, sondern in ihren Heimatländern leben.“

Den Ball nahm am Donnerstag auch die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles auf. Und vermischte das Thema wie Dedy mit mutmaßlichem Kindergeldbetrug durch EU-Ausländer. Man müsse sich dringend kümmern um Betrügereien rund um das Thema Familien- und Sozialleistungen. Bei einem Treffen mit Bürgermeistern am 27. September will sie das Thema Arbeitsmigration in seiner ganzen Breite und die Probleme vor Ort beraten, teilte Nahles mit. Die zu zahlende Leistung solle sich an den Lebenshaltungskosten in dem Land orientieren, wo die Kinder leben. „Bereits in der vergangenen Legislaturperiode habe ich das als Arbeits- und Sozialministerin zum Thema bei den EU-Partnern gemacht“, sagte Nahles. „Dabei bin ich auf viel Widerstand gestoßen und musste feststellen, dass diese Frage in Europa sehr umstritten ist.“

Massenhafte Anwesenheit?

Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ergeben allerdings ein Bild, das so dramatisch gar nicht ist. Demnach leben von 138000 Kindern rumänischer Eltern, für die Kindergeld bezahlt wird, derzeit nur knapp 19.000 nicht in Deutschland – der Großteil von 119.000 aber ist mit den Eltern hier. Noch weniger lässt sich eine massenhafte Abwesenheit der Kinder bei Bulgaren nachweisen. Hier sind es 84.000 Kinder insgesamt, von denen gut 77.000 in Deutschland leben und nur 6700 in Bulgarien oder einem anderen EU-Land. Fast zwei Drittel der 236.000 ins EU-Ausland fließenden Kindergeldfälle entfallen dagegen auf drei Nachbarländer: Polen (117.000), Tschechien (21.000) und Frankreich (16.000). Man darf annehmen, dass es sich hier zumeist um Pendler handelt, die in Deutschland einen Arbeitsplatz und auch einen Wohnsitz haben, aber ohne Familie hier sind.

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Wie sehr Deutschland mittlerweile ein international geprägter Arbeitsort ist, zeigt ein weiterer Blick in die Statistik. Insgesamt gibt es 9,1 Millionen Kindergeldberechtigte, davon sind 7,5 Millionen deutsche Staatsbürger. Kindergeld wird für insgesamt 15 Millionen Kinder gezahlt, von denen knapp 2,8 Millionen ausländische Eltern haben. Die größte Einzelgruppe in der Statistik, insgesamt 858.000 Kindergeldfälle, sind erstaunlicherweise die "Übrigen", also Ausländer, die weder aus der EU stammen noch aus einem Land, aus dem eine nennenswert große Anzahl Bürger in Deutschland lebt. Die zweitgrößte Gruppe sind Türken mit knapp 590.000 Kindern, von denen mit wenigen Ausnahmen alle in Deutschland wohnen. Danach folgen Polen, Italiener, Rumänen, Serben und Kroaten - und bei all diesen Nationalitäten leben weit mehr Kinder in Deutschland als in den Herkunftsländern.

"Kein Generalverdacht"

Hans-Günter Henneke, Vorstandsmitglied beim Landkreistag, sagte dem Tagesspiegel: „Wenn ein EU-Ausländer bei uns seinen gesetzlichen Anspruch geltend macht und Kindergeld bezieht, ist das natürlich kein Missbrauch. Hier müssen wir gut unterscheiden.“ Es sei aber am Gesetzgeber, eine Reduzierung des Anspruchs herbeizuführen für die Fälle, in denen die Lebenshaltungskosten am ausländischen Wohnort des Kindes geringer sind als in Deutschland. „Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die deutschen Sozialleistungen aus der Perspektive von Ländern mit geringerem Lebensstandard besonders attraktiv sind.“

Die Grünen-Politikerin Beate Walter-Rosenheimer mahnte zur Vorsicht. „Sachliche Auseinandersetzung mit dem Kindergeldmissbrauch ist richtig und wichtig. Was aber nicht heißt, dass man ganze Gruppen unter Generalverdacht stellen darf“, sagte sie dem Tagesspiegel. Ressentiments gegen Osteuropäer zu schüren lehne sie kategorisch ab. „EU-Ausländer, die in Deutschland sozialversicherungspflichtig arbeiten, leisten einen großen Beitrag für die deutsche Wirtschaft. Ohne sie würden viele Betriebe einen noch dramatischeren Arbeitskräftemangel nicht verkraften.“ Dass diese Menschen für die Dauer ihres Arbeitsaufenthaltes einen Anspruch auf Kindergeld für ihren Nachwuchs hätten sei kein Skandal, „sondern basiert schlicht und einfach auf EU-Recht“.

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