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Jubelnde Menschen sitzen mit Wunderkerzen auf der Berliner Mauer am 11.11.1989.

© picture alliance/dpa

Kemmerich, Rechte, Rundfunkgebühren: Immer Ärger mit dem Osten?

30 Jahre Deutsche Einheit - und die ostdeutsche Politik schert öfter aus. Weil das tiefsitzende Gründe hat, muss das die ganze Republik scheren. Ein Essay.

Ein Essay von Robert Ide

Corona mal weggedacht: Was wäre das für ein Jahr gewesen? Und wer war noch mal Thomas Kemmerich? Ein Jahr jedenfalls voller Aufreger – und einer seit 30 Jahren währenden Anregung: über die ostdeutsche Seele nachzudenken, sie ernst zu nehmen als politischen Faktor. Anlässe dafür gab es dieses Jahr genug.

Bevor die Pandemie einschlug, richteten sich die Blicke der Republik ostwärts, mit irritiertem Augenaufschlag. In Thüringen hatte sich Anfang Februar der weithin unbekannte FDP-Politiker Thomas Kemmerich mithilfe von CDU und AfD ins Amt des Ministerpräsidenten katapultiert – ein Landeschef von rechten Gnaden, das ganze Land war zurecht empört.

Die Linke warf ihm den Blumenstrauß, eigentlich für Amtsinhaber Bodo Ramelow vorgesehen, vor die Füße; die Bundespolitik schlug die Hände überm Kopf zusammen: Im Osten nix Neues. Der alte Regierbarkeitszustand konnte nur unter Schmerzen wiederhergestellt werden: Die Krisengespräche in Erfurt ließen FDP-Chef Christian Lindner fast wieder über sich selbst stolpern und Annegret Kramp-Karrenbauer machtlos das Amt als CDU-Vorsitzende hinwerfen – wegen der Pandemie und parteiinterner Zerrüttungen hat es bislang keiner aufgehoben.

Ein Gefühl aber blieb: Mit seinen politischen Entscheidungen und den dahinter hervorlugenden Gefühlen ist der Osten immer noch etwas Besonderes. Warum eigentlich?

Wie wenig die Bundespolitik, deren Eliten sich weiter vornehmlich aus der alten Bundesrepublik rekrutieren, den immer noch neuen Teil zu ergründen vermag, zeigte sich auch Anfang Dezember. Da konnte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff seine Kenia-Koalition als Bollwerk gegen die AfD in letzter Minute retten, indem er die Entscheidung über die Erhöhung der Rundfunkgebühr im Magdeburger Landtag kurzerhand absagte, was die zum Scheitern brachte.

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Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, bislang jährlich mit acht Milliarden Euro ausgestattet, eilte daraufhin vors Bundesverfassungsgericht, um jährlich weitere 400 Millionen Euro für all seine Programme zu bekommen, wo auf die Bremse getreten und eine Hauptsacheentscheidung verwiesen wurde, die kommt, wenn sie kommt.

Die aufgeregte Republik dagegen fiel über die landespolitische Entscheidung her. Dabei hatte die Landes-CDU mit der Blockade ein langjähriges Wahlversprechen eingelöst. Einzig Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), dank CDU-Tolerierung wieder gefestigt im Amt, sprang seinem CDU-Kollegen aus Sachsen-Anhalt öffentlich bei.

Im Osten gibt eine andere Lebenserfahrung

Haseloff habe „im Kreis der Länderchefs immer erläutert, dass es für eine Erhöhung der Rundfunkbeiträge in seinem Landtag keine Mehrheit gibt, wenn es nicht zu einer Debatte über die Reformfähigkeit der Sendeanstalten kommt“. Ministerpräsidenten anderer Länder hätten „mit den Augen gerollt“, berichtete Ramelow – und schob einen erhellenden Satz nach: „Einwände aus dem Osten finden westdeutsche Politiker oft lästig. Das erklärt auch den ostdeutschen Trotz.“

Regiert zwischen Ostsee und Erzgebirge sogar in den Staatskanzleien die Wut? Auf jeden Fall müssen sich Regierende einer anderen Lebenserfahrung stellen. Es herrschen, gründend auf Umbrüchen, Machtverhältnisse im Privaten und in Parlamenten, die Mehrheiten jenseits der von Vorurteilen lebenden, immer rechtslastigeren AfD schwieriger machen. So ist die CDU zu Konzessionen gezwungen, wenn sie handlungsfähig bleiben will – nicht gegenüber einer CDU-Kanzlerin in Berlin am Ende ihrer Ära, sondern gegenüber den Menschen, die schon zu DDR-Zeiten dem Staat gegenüber skeptisch waren und die im neuen Deutschland zu selten eingeladen wurden, an entscheidenden Stellen mitzuwirken.

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In vielen von ihnen wohnt Trotz, der sich nur durch positive Erfahrungen abbauen lässt. Durch mehr Sichtbarkeit in wichtigen Positionen. Und ja, auch wenn schon oft gehört, durchs Zuhören.

Selbst 30 Jahre nach der eiligen Einheit tickt der Osten nach anderer Zeitrechnung, lebt in einem anderen Gefühlshaushalt. Im Nachvornesehen müssen Erfahrungen aus dem stetigen Wandel stets mitgedacht werden. Auch auf seine Schattierungen.

Rückblickend sollten wir zuallererst auf die Menschen blicken, die den Wandel mit ihrem Mut erst ermöglicht haben – die für Freiheit in Haft saßen, deren Gesundheit angegriffen wurde, deren Familien und Freundeskreise teilweise zerstört wurden.

Wie lassen sich Interesse und Empathie gewinnen?

An sie zu erinnern, an ihre Träume und Schmerzen, bleibt Aufgabe des ganzen Landes. Aber wie lassen sich die Blicke aller anderen, die nicht dabei waren, darauf lenken, wie lässt sich ihre Empathie gewinnen? Dazu muss die Geschichte moderner dargestellt, gegenwärtiger erzählt werden. Nicht nur an Jahrestagen orientiert, sondern am Publikum. Es wäre ein wichtiger Schritt, Gegenwart besser zu begreifen. Und Verluste anzuerkennen – Verluste an Gewohnheiten nach dem Ende der DDR. Verluste, die bis heute Ängste auslösen, die es zu bearbeiten gilt.

Das fängt beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen an, das sich mit Strukturreformen und Selbstkritik schwer tut und zu selten auf Verlustängste und Lebenserfahrungen von Menschen im Osten eingeht – weil die Anstalten selbst in den Leitungen ihrer ostdeutschen Sender oft westdeutsch geprägt sind.

Aufarbeitung - ein angestaubtes Wort

„ARD und ZDF sind in vielen Sparten Westfernsehen geblieben“, sagte Haseloff der „Welt“. Manche Berichte aus dem Osten wirkten wie Reportagen aus dem Ausland, „das merken die Leute natürlich“. Die Reaktion ostdeutsch dominierter Medien, als eine Art Gegenmittel in Nostalgie zu verfallen und sich in immeralten DDR-Erinnerungen zu verfangen, hat allerdings auch schon Staub gefangen. Das Neue aus dem Alten heraus zu erzählen; es gelingt allzu selten.

Drei Streifen, zwei Geschichten, ein Land? Ost und West sind sich im Jahr 30 weiter fremd. Das schlägt sich auch in der Tagespolitik nieder (Archivfoto).
Drei Streifen, zwei Geschichten, ein Land? Ost und West sind sich im Jahr 30 weiter fremd. Das schlägt sich auch in der Tagespolitik nieder (Archivfoto).

© Michael Reichel/dpa-Zentralbild/dpa

Aufarbeitung. Auch dieses Wort wirkt angestaubt. Es stellt etwas Abzuschließendes in Aussicht, das nicht abzuschließen ist: Gegenwart zu ordnen durch Einordnung in Geschichte – mit möglichst zukunftsweisenden Ansätzen: digitaler, interaktiver, Neues suchend. Althergebrachte Sperrigkeit, ideologische Selbstgewissheit auch im Umgang mit AfD-Wählern und Rituale des Gedenkens verschütten Neugier. Aber ohne die Neugier der Anderen gehen wichtige Erinnerungen verschütt.

Zum Verständnis heutiger politischer Verwerfungen im Osten gehört das Freilegen der Mühen der Einheit: Arbeits- und Orientierungslosigkeit, Abwanderung und Abwendung. Zeiten und Gefühle, die viele zum Vergessen fanden, die aber nicht vergessen werden dürfen. Institutionen und Menschen brauchen einen frischen Blick auf die Transformation, Neugier auf den Umbruch nach den Umbruch. Immerhin das ist in diesem Jahr im ganzen Land aufgefallen.

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Wie aber bekommt man alte Erinnerung neu erzählt? Natürlich braucht es die authentischen Orte, die Gefängnisse in Hohenschönhausen oder in Bautzen, und auch die Museen, die von den Tätern und Schreibtischtätern zeugen.

Aber es braucht auch mehr Interaktion jenseits der eigenen Erinnerungsblase, die sich auch um diese Orte gebildet hat. Ein paar Beispiele gab es in Berlin rund um den 30. Jahrestag des Mauerfalls, mehr als beim eher unemotionalen Einheitsjubiläum in diesem Jahr – hier hat Corona den inneren Abstand vieler zum Blick auf die deutsche Einheit verstärkt. Einen guten Ansatz, Neues und Altes zu verbinden, lieferte vor allen Lockdowns das kleine „MachMit“-Museum in Berlin-Prenzlauer Berg. Hier befragten Kinder frühere Bürgerrechtler aus ihrem Kiez, was sie früher riskiert haben, um frei zu sagen, was sie dachten, und die Musik zu hören, die sie mochten.

Die DDR als unbekanntes, interessantes Land erinnern

Junge Menschen denken und sprechen anders über die DDR und die friedliche Revolution – nämlich wie über ein unbekanntes und vor allem interessantes Land, das nicht in jeder Phase als SED-Diktatur empfunden worden ist, obwohl die natürlich da war. So tragen sich Erinnerungen weite und entwickeln sich zugleich neu.

Das Haptische im Heute ist wichtig, um Neugier zu wecken. Es lädt Erinnerungen mit neuen Erlebnissen auf und zeigt nebenbei, wie viel gerade die mutigen Menschen in Belarus gerade für ihre Freiheit riskieren. Und nebenbei könnte so auch manchem Corona-Leugner in Sachsen (und Bayern) gewahr werden, dass eine Diktatur etwas anderes ist, als wenn man eine Gesichtsmaske im öffentlichen Raum tragen soll.

„Wie hast Du die Einheit überstanden?“

„Wie hast Du die Einheit überstanden?“ Nach 30 Jahren rückt diese Frage stärker in den Fokus des Erinnerns. Die Opfer der DDR-Willkür dürfen nie vergessen werden. Nun wird auch der Preis der Einheit verhandelt – etwa für all jene, die sich in ihren Dörfern gegen Neonazis stellten, die die sich leerenden Räume mit Gewalt zu besetzen suchten und leeren. Und für Menschen, die sich unkaputtbar durch die Stürme der Nachwendezeit schufteten. Auch das ist eine anerkennenswerte Leistung.

Was Umbrüche betrifft, verbirgt Ostdeutschland unter zerrütteten Gefühlen einen verschütteten Erfahrungsschatz – durch Neugier ließe er sich für alle heben. Und sollte deshalb wissenschaftlich erforscht und gesellschaftlich diskutiert werden. Denn neue Umbrüche sind längst da und erfassen das ganze Land: die durch die Digitalisierung und kommende der Selbstfindung in der Pandemie. So könnte auch Stolz auf Selbsterreichtes entstehen, der nicht auf Nostalgie baut, sondern in der Gegenwart emotional Halt gibt.

Sie kehren zurück mit ihrer Ost-West-Nord-Süd-Erfahrung

Viele junge Ostdeutsche haben in den Jahrzehnten der Angleichung ihre Heimat verlassen. Manche kehren jetzt zurück nach Thüringen oder Sachsen-Anhalt – oder ihre Kinder. Und bauen Neues auf, mit eigener Ost-West-Nord-Süd-Erfahrung. Dass nun solche Transformationen und Metamorphosen erforscht und diskutiert werden sollen, wie von der Einheitskommission unter Leitung des früheren Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) angeregt – was ist das anderes als überfällig?

Auch der Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ein durch Forschung und Debatten lebendiges Denkmal für die friedliche Revolution einzurichten – etwa in der früheren Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, die weiter ihrer Erweckung in der Gegenwart harrt – könnte den Blick des gesamten Landes weiten. Und auch junge Leute interessieren.

Was eine neue Betrachtung zusätzlich reizvoll macht: Die Aufbereitung der Geschichte und ihre gegenwärtige Betrachtung, auch die Erinnerung an die Widerständigen und die Opfer, steht vor einem Generationenwechsel. Sie muss sich wandeln mit modernen, künstlerischen Aktionen im öffentlichen Raum, mit mehr Gesprächen zwischen Generationen, mit moderner Kommunikation, interaktiver Erzählung und sozialer Empathie.

Geschichte muss von unten erzählt werden

Wenn es ab dem nächsten Jahr einen DDR-Opferbeauftragten des Bundestags gibt, der den Stasi-Akten-Beauftragten ablöst, muss sich diese neue Institution um ein neugieriges Gedenken kümmern. Darum, alte Erfahrungen anders erlebbar machen. Eine moderne Erinnerung ist gerade im Sinne der Opfer. Und sie erklärt vieles, was viele an der gegenwärtigen ostdeutschen Politik unerklärlich finden.

Geschichte muss von unten erzählt werden – mit Geschichten aus Familien und Gemeinschaften, in denen es nicht nur Helden gab. So wie es auch heute nicht nur Helden gibt. Um Widerstände im Heute besser zu begreifen, lohnt sich ein genauer Blick auf diejenigen, die die friedliche Revolution ermöglicht haben. Neugier, die auch das westdeutsch geprägte öffentlich-rechtliche Fernsehen und die alte Bundespolitik öfter aufbringen müssen, die nicht nur aufflammen darf, wenn man wieder eine politische Entscheidung im Osten nicht versteht. Ostdeutschland hat im Alten viel Neues zu erzählen. Und deshalb öfter mal politisch eine andere Meinung. Teilen muss man sie nicht. Aber verstehen wollen darf man sie schon.

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