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US-Präsident Joe Biden

© imago images/ZUMA Wire/Doug Mills

Keine Pflicht zum Wiederaufbau: Biden erklärt den Demokratieexport für beendet

Die USA beenden eine Ära. Will Deutschland nun ebenfalls aufgeben oder ein Ziel verfolgen, das es nicht mal mit Amerika erreicht hat? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Was war schockierender an Joe Bidens Rede über den Abzug aus Afghanistan: die Weigerung, eigene Fehler einzuräumen, oder die Ausrufung einer neuen Zeit, in der es kein Ziel des Westens mehr sein solle, Demokratie zu exportieren?

Über den ersten Teil, die Schuldzuweisung an andere, voran Donald Trumps Absprachen mit den Taliban, darf man sich empören. Folgenreicher für Deutschland und Europa ist der zweite Teil.

Man darf ihn getrost als neue Doktrin, die Biden-Doktrin, betrachten. „Bei dieser Entscheidung geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, die Ära militärischer Operationen mit dem Ziel, andere Länder umzugestalten, zu beenden“, sagt Biden.

Das stellt das komplette Konzept in Frage, mit dem deutsche Regierungs- wie Oppositionsparteien bisher Missionen wie in Afghanistan begründet haben. Kurz gefasst war ihr Credo: Militärische Gewalt ist moralisch schlecht; ihr Einsatz mag im Extremfall unumgänglich sein, um Gefahr von den eigenen Bürgern abzuwenden. Um sie zu rechtfertigen, muss der Westen dem betroffenen Land beim Wiederaufbau helfen – was den Aufbau demokratischer Strukturen nach westlichem Muster einschließt.

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Biden stellt das deutsche Denken auf den Kopf

Biden erklärt solche Ziele für Humbug – mehr noch: für kontraproduktiv. Nicht nur das „Nationbuilding“, das in der Tat ein überehrgeiziges Ziel für Afghanistan war angesichts des Nebeneinanders verschiedener Stämme, Sprachen und Religionen mit geringem staatlichem Zusammengehörigkeitsgefühl.

Republikaner werfen Präsident Biden vor, er habe die USA durch den Abzug geschwächt.
Republikaner werfen Präsident Biden vor, er habe die USA durch den Abzug geschwächt.

© Alex Wong/Getty Images/AFP

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Biden schließt auch das bescheidenere Ziel „Institutionbuilding“ aus. In seiner Rede stellt er das deutsche Denken auf den Kopf. Sicherheitsprobleme kann man rein militärisch lösen; daraus folgt keine Pflicht zum Wiederaufbau. „Wir können Terroristen und Ziele ohne amerikanische Bodentruppen attackieren, oder gegebenenfalls mit sehr wenigen.“

Hält Deutschland am Werteexport fest, und wie soll das gehen?

Er interpretiert den umfassenden Aufbauansatz als Mitursache des Scheiterns. „Wir haben gesehen, wie eine Anti-Terror-Operation sich in Aufstandsbekämpfung und Nationsbildung verwandelte. Wenn wir uns von diesem Ansatz und dieser Art umfassender Truppeneinsätze verabschieden, wird uns das stärker und effektiver machen, und sicherer zu Hause.“ Der Westen benötige seine Ressourcen, um sich im Wettbewerb mit China und Russland sowie gegen andere Gefahren zu behaupten.

Da liegt die wahre Herausforderung für deutsche und europäische Außenpolitiker. Teilen sie Bidens Analyse, dass die Ära des Demokratie- und des Werteexports enden muss, oder halten sie an den Zielen fest?

Und wie müssen sie sich organisieren, wenn sie die Aufgabe, die sie in Afghanistan nicht einmal gemeinsam mit den USA stemmen konnten, künftig allein, ohne die Weltmacht USA, erfüllen wollen?

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