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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am Mittwoch bei der Urteilsverkündung.

© Uli Deck/dpa

Karlsruher Urteil zu Merkel-Kritik an AfD: Wie neutral muss eigentlich das Bundesverfassungsgericht sein?

Richterin Astrid Wallrabenstein will Partei-Freiraum für Regierungshandeln. Ein Gedanke, der auch auf die Rechtsprechung übertragen werden kann. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Am Ende zählt, was die Mehrheit will. Das gilt nicht nur für demokratisch gewählte Parlamente, sondern auch für Verfassungsgerichte demokratischer Staaten. Was aussieht wie die Produktion unumstößlichen Rechts, ist das Ergebnis einer Abstimmung, die an einem anderen Tag in anderer Besetzung anders ausfallen könnte.

So war es auch, als das Bundesverfassungsgericht Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen Verletzung amtlicher Neutralitätspflichten nachträglich untersagte, ihrer Empörung über eine Kollaboration der AfD mit CDU-Landtagsabgeordneten Luft zu machen. Bei einem Staatsempfang in Südafrika hatte Merkel die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 als „unverzeihlich“ gerügt. Für die CDU gelte, dass sich die CDU an einer derart gewählten Regierung nicht beteiligen dürfe. Und so war es dann auch.

Zwei Dissidenten verstecken sich

Die Abstimmung in Karlsruhe darüber fiel denkbar knapp aus. Drei der acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats stimmten gegen die Mehrheit; einer mehr, und die AfD wäre mit ihrer Klage gescheitert. Zwei Dissidenten bleiben hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses verborgen, eine zog ihn von sich weg: Astrid Wallrabenstein, Professorin für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Sozialrecht und seit 2020 auf Vorschlag der Grünen am Gericht. Sie schrieb eines der seltenen Sondervoten: „Regierungshandeln soll auch in der Erwartung der Bürgerinnen und Bürger gerade nicht neutral sein. Regierungsarbeit ist politisch und in einer Parteiendemokratie parteipolitisch geprägt“, heißt es darin.

Spielt es eine Rolle, dass die Grünen Wallrabenstein wollten?

Spielt es eine Rolle, dass die Grünen Wallrabenstein als Richterin wollten? Im Prinzip nein, denn erwartet wird, dass die gewählten Richterinnen und Richter ihre Präferenzen hinter sich lassen. Erwartet wird Überparteilichkeit. Erwartet wird Neutralität.

Wallrabenstein wird dies nicht bestreiten. Oder doch? Ihr Einstieg in Karlsruhe war dadurch belastet, dass sie in einem Prozess wegen möglicher Befangenheit ausgeschlossen wurde. Als designierte Richterin hatte sie ein Interview gegeben, in dem sie meinungsfreudig die Europa-Rechtsprechung des Gerichts erörterte. Ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme fand sie nichts dabei.

In Wahrheit werde parteilich entschieden, meint die Richterin

Muss jedes Wort auf die Goldwaage? Aus dem Sondervotum Wallrabensteins geht hervor, dass sie allgemein Zweifel an traditionellen staatlichen Neutralitätskonzepten hegt. Sie sind ihr nicht ehrlich genug, weil es eben Menschen sind, die Ämter ausfüllen. Menschen mit Meinungen, politischen Zielen, Überzeugungen, Vorlieben. Beim Regierungshandeln, so die Richterin, gebe es deshalb auch nur den „Anschein von Neutralität“. In Wahrheit werde parteilich entschieden, und dies werde von den Wählerinnen und Wählern auch exakt so gewollt.

Ein Gedanke, der sich auch auf das Verfassungsrichteramt übertragen ließe: Hier wählt zwar nicht das Volk, sondern Bundestag und Bundesrat einigen sich über die Wahl. Im Ergebnis fallen aber auch hier Entscheidungen „im Namen des Volkes“.

Alle spielen das leicht verlogene Spiel mit

Neutralität ist eine Illusion: Die Vorschlagsberechtigten pflegen Kandidaten zu nominieren, die mit ihren Parteisichtweisen übereinstimmen. Womöglich sind manche sogar selbst Parteimitglieder; bei manchen ist es bekannt, Transparenzpflichten gibt es keine. Nach Ernennung deren politisches Vorleben zu thematisieren, gilt als unfein, wofür Gerichtspräsident Stephan Harbarth, mutmaßlich immer noch CDU, das beste Exempel abgibt. Alle spielen das Spiel vom unpolitischen Bundesverfassungsgericht mit, damit der leicht verlogene „Anschein von Neutralität“ gewahrt bleibt.

Was also ist es für eine Neutralität, die die Richtermehrheit fordert, ohne sie selbst bieten zu können? Vielleicht dies: ein ständiges Bemühen, den eigenen Standpunkt mit der Umwelt in Beziehung zu setzen; an sich zu zweifeln, wenn an der eigenen Erkenntnis kein Zweifel besteht; alles für möglich halten – auch, dass man irrt. Folgerichtig findet sich im Sondervotum wenig davon.

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