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Karl Lagerfeld ist im Alter von 85 Jahren gestorben.

© John MacDougall / AFP

Karl Lagerfeld und Tomi Ungerer: Überschreiter von Grenzen

Der Illustrator und der Modedesigner lehnten dumpfen Nationalismus ab, sie waren zerissen zwischen Kulturen. Ihr freier Blick wird Europa fehlen. Eine Kolumne.

Zwei Weltbürger haben uns innerhalb von zehn Tagen verlassen. Der Illustrator und Schriftsteller Tomi Ungerer ist am 9. Februar gestorben. Der Modedesigner Karl Lagerfeld am 19. Februar. Der eine wurde 1931, der andere 1933 geboren, beide haben als Kinder den Krieg erlebt. Beide sind sie fern ihrer Heimatstadt gestorben. Tomi Ungerer bei Cork. Karl Lagerfeld in Paris.

Auf den ersten Blick haben der anarchistische Elsässer mit dem bissigen Humor und der preziöse, fesche Dandy der Laufstege darüber hinaus nicht viel gemeinsam. Dabei waren sie beide Überschreiter von Grenzen. Eine wertvolle Spezie in Zeiten der nationalistischen Abschottung. Tomi Ungerer lebte in Straßburg und in der Nähe von Cork. Zuvor hatte er Stationen in New York und im kanadischen Nova Scotia eingelegt. Er fühlte sich wie ein Fisch im Wasser, wenn er in Deutschland war. Karl Lagerfeld war Deutscher, lebte in Paris und war mit seinen Kollektionen überall auf der Welt unterwegs. Beide wechselten beim Sprechen zwischen Deutsch und Französisch, ohne dass sie es merkten. Beide fühlten sie sich ihrer Region verbunden und nicht so sehr ihrem Land. Tomi Ungerer sagte: „Ich bin ein Elsässer, entwurzelt, verwurzelt, aber mit Wurzeln.“ Der gebürtige Hamburger Karl Lagerfeld verstand sich weniger als Deutscher als vielmehr als Hanseat.

Sie verurteilten die immense Dummheit des Populismus

Immer zerissen zwischen zwei Kulturen, lehnten sie beide dumpfen Nationalismus und jegliche Art von Autoritarismus ab und verurteilten die immense Dummheit des Populismus. Sie liebten es zu provozieren. „Ich bin mein eigenes Land. Meine Flagge ist mein Taschentuch“, witzelte Tomi Ungerer einmal. In seinen Zeichnungen machte er sich immer wieder über Chauvinisten lustig, ganz gleich, woher sie kamen.

Als die AfD in den Bundestag einzog, wurde Karl Lagerfeld sehr wütend: „Wenn das weitergeht, gebe ich die deutsche Staatsangehörigkeit auf. Ich will nicht Teil dieses Neonazi-Clubs sein“, erklärte er – und sich. „Ich bin sehr deutsch, aber eher in einem abstrakten Sinn“, sagte er in einem Interview mit der „Zeit“ und mit „Vogue“. „Das hat nichts mit Patriotismus oder gar Nationalismus zu tun. Das ist etwas Kulturelles, Literatur, Kunst, Stummfilm, vor allem jüdische Kultur, in Wien und in Berlin.“

Tomi Ungererer hat sein Leben damit verbracht, Worte und Bilder für das Hin-und-Hergerissensein zwischen der französischen und der deutschen Kultur zu finden. Straßburg ist der Sitz der so eigenwilligen „elsässischen Zwischenkultur“, und so wuchs Ungerer auf zwischen Babar und Struwwelpeter, zwischen Lafontaine und Max und Moritz, zwischen Gustave Doré und Cranach. Er wurde von den Nazis in der Schule indoktriniert, und als die Franzosen 1945 zurückkehrten, versuchten sie, ihm seinen elsässischen Akzent auszutreiben. „Französisch sprechen ist schick“, gemahnten kleine Schilder in seiner Schule. Tomi Ungerer war die Verkörperung des überzeugten Europäers.

Der eine kämpfte mit Stift und Aphorismen, der andere mit Stoff und Schere. Drei Monate vor der Europawahl, die eine durch Brexit und Populismus schon wackelige Struktur noch mehr zu schwächen droht, sind sie nun verschwunden. Die zwei mit ihrem freien, unkonventionellen Blick werden uns fehlen.

Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennell.

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