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Kampf um die Seele der Nation: Joe Biden in Gettysburg.

© Brendan Smialowski/AFP

Kann Joe Biden so überzeugen?: Der Herausforderer will um Amerikas "Seele kämpfen"

27 Tage vor der Wahl setzt Joe Biden auf mehr Einheit für die gespaltene Nation. Trump will polarisieren und verweigert ein Coronahilfe-Paket. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Geschichte, Pathos, Bürgerkrieg, Versöhnung: Joe Biden greift tief ins Arsenal der politischen Symbolik und Rhetorik in den USA. In der Nacht zu Mittwoch hielt er eine Rede in Gettysburg, Schauplatz einer der blutigsten Schlachten des Bürgerkriegs mit mehr als 30.000 Toten. Und Schauplatz einer der berühmtesten Reden der amerikanischen Geschichte.

In der historischen "Gettysburg Address" rief Präsident Abraham Lincoln bei der Einweihung des Soldatenfriedhofs am 19. November 1863 dazu auf, die Gründungsideale zu verteidigen, aber trotz des spaltenden Bürgerkriegs Einheit und Versöhnung anzustreben.

"Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Nun stehen wir in einem großen Bürgerkrieg, der eine Probe dafür ist, ob diese oder jede andere so gezeugte und solchen Grundsätzen geweihte Nation dauerhaft Bestand haben kann." Millionen besuchen das Museum auf dem Schlachtfeld jedes Jahr. Im Schulunterricht ist die "Gettysburg Address" Pflichtstoff.

Biden übersetzt die Botschaft ins Hier und Jetzt. "Dem Virus ist es egal, wo du lebst und zu welcher politischen Partei du gehörst. Es betrifft uns alle. Es kann jedem das Leben nehmen. Es ist ein Virus - keine politische Waffe."

Er zieht weitere Parallelen zwischen dem Bürgerkrieg und der aktuellen Lage. Wie damals sei Amerika jetzt "in einer Schlacht um die Seele der Nation". Jede und jeder könne sehen, "und dafür ist nicht entscheidend, ob sie bei den meisten Dingen mit mir übereinstimmen: Was wir gerade erleben, ist weder gut noch normal."

Wer findet mehr Resonanz: Biden mit Versöhnung, Trump mit Spaltung?

In der gleichen Nacht, in der Biden in Gettysburg vor dem Bürgerkrieg warnt und die Bürger aufruft sich auf ihre Gemeinsamkeiten zu besinnen, verkündet Präsident Donald Trump aus dem Weißen Haus die Gegenbotschaft: Er betonte die Unterschiede, er polarisierte gezielt.

Es werde keine weiteren Gespräche zwischen Republikanern und Demokraten über ein neues Hilfspaket für die Opfer der Corona-Rezession vor der Wahl mehr geben. Und er kündigt zusätzliche Verschärfungen in der Visavergabe an.

Versöhnung oder Spaltung, Aufruf zur Einheit oder Polarisierung - 27 Tage vor dem offiziellen Wahltag haben Bürgerinnen und Bürger eine klare Alternative. Kann Trump durch Zuspitzung ein Comeback gelingen oder siegt Biden mit seinem großväterlichen Auftreten?

Wer von beiden findet mit seinem Angebot mehr Resonanz, Biden oder Trump? Das ist nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick erwarten könnte. Die Botschaften werden nicht in gleicher Intensität verbreitet. Bidens Rede macht weniger Schlagzeilen als Trumps Drohungen.

Von Bidens Auftritt wird vor allem berichtet, dass er keine weitere TV-Debatte mit Trump führe, solange der als ansteckend gelte. Und unter denen, die Biden erreicht, dürften einige Zweifler sein. Klar doch, Versöhnung klingt besser als Spaltung. Aber wie oft haben Präsidentschaftskandidaten in den vergangenen Jahren versprochen, sie wollten eine gespaltene Nation zusammenführen? Und was ist daraus geworden?

Die Krisen als Herausforderung oder als Problem?

Biden fasste die Unterschiede zwischen Trump und ihm so zusammen: Er betrachte die vielen Krisen, vor denen Amerika stehe, als Herausforderungen, die man gemeinsam überwinden könne. Trump betrachte sie als Probleme, die man bekämpfen müsse.

Der Herausforderer wandte sich an alle, die unter der Rezession leiden und hören, dass Trump kein neues Corona-Hilfspaket wolle. "Falls Sie ihren Job verloren haben, falls Sie ihr Geschäft schließen mussten, falls die Schule ihrer Kinder zu bleibt, falls Sie die Arbeitslosigkeit in ihrer Kommune sehen - Donald Trump hat soeben entschieden, dass ihn das nichts angeht. Der Präsident wendet ihnen den Rücken zu."

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Die Entscheidung rückt näher. Beide Kandidaten stehen unter dem Druck der Umfragen und dem Druck ihrer Berater. Sowohl im Umfeld Trumps als auch im Umfeld Bidens raten manche, die Strategie zu überdenken. Mit seinem unverschämten Auftreten in der TV-Debatte verliere er Wähler, warnen Republikaner Trump. Und ebenso, wenn er seine Corona-Infektion ignoriere, sich selbst aus der Isolierung im Krankenhaus entlasse und die Gesundheit anderer gefährde.

Laut Umfragen liegt Biden mit seiner Strategie richtig

Einige Demokraten verlangen von Biden, er müsse Trump härter entgegentreten. Er dürfe dessen Polarisierungsversuchen nicht nur mit Aufrufen zur Versöhnung zu begegnen. Besonders der linke Parteiflügel fordert einen kämpferischen Biden.

Die Entwicklung der Umfragen lässt vermuten, dass Biden mit seiner Strategie richtig liegt. Seit dem 1. Oktober wächst sein Vorsprung kontinuierlich. Sowohl im Schnitt der landesweiten Umfragen, auf nun 9,0 Prozentpunkt. Als auch im Schnitt der Erhebungen in den entscheidenden "Battleground States", auf nun 4,4 Prozentpunkte.

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