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Kampfansage. "Wir sind mit ihm für Russlands Souveränität! Und du?", fragt dieses Plakat vor der Moskauer Duma autoritätshörige Bürgerinnen und Bürger.

© AFP

Kampfbegriff Diktatur: Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein im Kampf gegen Autokraten

Was aus der Ukraine wird, wagt heute kaum jemand zu prognostizieren. Aber sicher ist, dass die Demokratie mehr Selbstsicherheit braucht. Ein Plädoyer.

Von Caroline Fetscher

An Warnungen vor einer Diktatur hat es hier im Land seit ein, zwei Jahren nicht gefehlt. Es gab sie zuhauf. Allerdings galten sie keineswegs Staaten, in denen Autokraten regieren, keineswegs Ländern und Regionen, die unter Despotismus leiden, unter Tyrannei, Militärherrschaft, Willkürherrschaft, Neofeudalismus und Kleptokratie, unter ethnisch oder religiös geprägten Regimen oder weiteren Varianten prädemokratischer wie antidemokratischer Systeme.

Nein, all so etwas spielte weder auf Demonstrationen noch in verbalen Scharmützeln eine Rolle. Da war nicht die Rede von Präsident Wladimir Putins lupenreinen Lügen und seiner brutaler werdenden Machtausübung im Kreml, ebenso wenig von der Unterdrückung des zivilen belarussischen Widerstands gegen die Alleinherrschhaft von Präsident Alexander Lukaschenko.

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Vielmehr waren stürmische Chöre zu hören im Protest wider eine „Merkel-Diktatur“. Auch seit dem Antritt einer neuen Regierung ist immer noch immer die Rede von einer „Corona-Diktatur“, in der etwa Ungeimpfte vorübergehend nur eingeschränkt Restaurants oder Theater besuchen dürfen. Flankierend wird bisweilen von einem politisch korrekten „Meinungs-Totalitarismus“ gesprochen, einer erzwungenen Wokeness, womit peinliches Eifern für Gendersternchen oder gegen Transphobie gemeint ist.

Auf der anderen Seite des ideologischen Ozeans stürmt es ebenfalls. Nach der Lesart dieser Wetterkarte leben Leute hier in einem Land mit durch und durch sexistischen und rassistischen Strukturen. Seufzend beteuerten Demokratinnen und Demokraten, man müsse viel selbstkritischer werden.

Beim Blick auf den Krieg in Europas Osten können sich extreme Behauptungen beider Seiten, der rechten und identitären wie der woken und identity-politischen, auflösen wie Staubwolken. Mit dem militärischen Überfall eines Despoten auf die Ukraine, deren Präsident in einem Kiewer Luftschutzkeller um sein Leben fürchten muss, rücken die luxuriösen Dispute in den Demokratien – hoffentlich – wie von alleine in den Hintergrund.

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Eben erst hat die Bertelsmann Stiftung ihren Report über die weltweite Abnahme oder Stagnation gelingender Transformationen zu parlamentarischen Systemen publiziert. „Nachlassende Resilienz“ (Resilience wearing thin) lässt sich der Titel der Studie übersetzen, die besorgniserregende Statistiken zu zahlreichen Staaten der Erde liefert. Ihr Fazit: „Die Demokratie verliert an Boden“. Und: „Der Trend zu autoritärem Regieren hält an.“

Selbst ökonomische Transformationsprozesse sind ins Stocken geraten, etwa in Bahrain, Botswana, Brasilien, El Salvador, Ungarn, Kuwait, Peru oder der Türkei. Länder wie der Iran, Turkmenistan oder Venezuela sinken unter vorherige Level ab, ganz zu schweigen von Staaten wie Libyen, Syrien oder dem Jemen, die durch Bürgerkriege zerrissen sind – was auch der Begriff „Bürger*innenkriege“ keinen Deut besser machen würde – oder aber Failed States wie der Zentralafrikanischen Republik, dem Sudan und Haiti.

Was aus der Ukraine wird, die sich gegen Oligarchen und Korruption wacker auf den Weg zur Demokratie gemacht hat, wagt heute kaum jemand zu prognostizieren. Die Demokratie ist nicht sicher gegen Bomben. Aber bombensicher ist, dass die Demokratie mehr Selbstsicherheit braucht.

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