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Wer liest künftig alles mit?

© REUTERS/Dado Ruvic/Illustration/File Photo

Kampf gegen Kindesmissbrauch: Angriff auf das digitale Briefgeheimnis

Im Namen des Kinderschutzes will die EU-Kommission Bürgerrechte schleifen. Dabei sagen sogar Ermittler, dass noch mehr Daten nicht helfen. Ein Gastbeitrag.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war FDP-Bundesjustizministerin und ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich- Naumann-Stiftung für die Freiheit

Seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 und in Madrid 2004 sind Teile der globalen Sicherheitspolitik auf dem Irrweg. Die Idee, jede Datenspur zu erfassen, zu scannen und riesige Datenberge anzuhäufen, ist immer wieder gesetzliche Wirklichkeit geworden. Oft hatte sie keinen Bestand vor dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichtsbarkeiten.

Dasselbe Muster sehen wir jetzt bei der EU-Kommission unter Führung der Deutschen Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen. Der Verordnungsentwurf der EU-Kommission zur Prävention und Bekämpfung von Kindesmissbrauch im Netz überschreitet alle Vorstellungen. Er ist ein Frontalangriff auf die Bürgerrechte im digitalen Raum und hebelt das digitale Briefgeheimnis faktisch aus. Auch die Uploadfilter kehren zurück.

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Nach dem Willen der Kommission sollen Anbieter von Messenger- und anderen Kommunikationsdiensten sowie Host Provider künftig per Anordnung verpflichtet werden können, Kommunikation nach bestimmten Inhalten zu durchsuchen und neue Inhalte zu filtern. Auch Anordnungen zur Löschung von Inhalten und Netzsperren sind vorgesehen. Durch das „client-side scanning“ oder andere Formen einer „Chatkontrolle“ soll vermieden werden, dass die Ende-zu- Ende-Verschlüsselung von Nachrichten ausgehebelt werden muss.

Europa ist nicht China

Doch wie die Internetsperren aus den Jahren 2009 und 2010 scheiterten, wird auch dieser Vorschlag nicht Realität werden. Europa ist nicht China, hier heiligt der Zweck eben nicht jedes Mittel, und was die Kommission plant, würde das digitale Briefgeheimnis zerstören und den Sinn verschlüsselter Kommunikation ad absurdum führen. Allein die Möglichkeit, dass ein Scannen und Filtern von Inhalten angeordnet werden kann, reicht bereit aus, um die Vertraulichkeit der Kommunikation de facto abzuschaffen. Schließlich braucht es, um eine Scan- oder Filteranordnung umzusetzen, die technische Möglichkeit, Inhalte im Klartext zu durchsuchen. Diese Möglichkeit muss von Anbietern eingebaut werden und steht im Widerspruch zu einer wirksamen Verschlüsselung.

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IT-Sicherheitsexperten haben in einem viel beachteten Papier aus dem vergangenen Jahr von Handys als Wanzen („bugs in your pocket“) gesprochen, die sich jederzeit an- und ausschalten lassen. Bereits im März hatten sich zum ursprünglich angekündigten Vorstellungstermin für den Verordnungsentwurf namhafte Bürgerrechtsorganisationen in einem Offenen Brief an die Kommission gewandt und die Probleme mit dem „client-side scanning“ und der „Chatkontrolle“ aufgezeigt. Der Chaos Computer Club spricht in seiner Stellungnahme zu dem Entwurf von einer „fundamental fehlgeleiteten Überwachungsmethode“.

Die Praktiker sind auch skeptisch

Selbst wenn man nicht auf all die „üblichen verdächtigen“ Bürgerrechtsvertreter hören möchte, sollte man sich wenigstens die Sicht der Praktiker und Betroffenen zu Herzen nehmen. Aus Sicherheitsbehörden hört man in Fachgesprächen häufig Zweifel, ob ihnen die vorgeschlagenen Instrumente einen Vorteil bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch verschaffen. Denn es mangelt heute schon nicht an Datenspuren. Es mangelt an Kapazitäten, um diese zeitnah und systematisch auszuwerten. Zudem verschicken viele Täter nicht mehr große Mengen von Bildmaterial, sondern verlinken Inhalte. Auch die besten technischen Möglichkeiten können keine Analyse eines Links ohne Anhaltspunkte für den weiterführenden Inhalt bewerkstelligen. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die vorgeschlagenen Methoden in großen Teilen ein untauglicher Versuch bleiben müssen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

© Roberto Pfeil/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Das ist umso schwerwiegender, wenn man bedenkt, dass sexueller Missbrauch von Kindern eine reale und wachsende Gefahr ist. Erste Studien legen nahe, dass die Fälle sexuellen Missbrauchs während der Corona-Pandemie gestiegen sind. Berichte aus den vergangenen Wochen sprechen davon, dass die Europäische Union Drehscheibe für die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen im Netz ist. Wie diese schrecklichen Probleme angegangen und Erkenntnisse in wirksame Maßnahmen umgesetzt werden können, ist eine große Herausforderung.

Mehr Polizeisichtbarkeit im Netz fordert der Kinderschutzbund

Die überaus erfolgreiche Sondereinheit „BAO Berg“ (BAO für Besondere Aufbauorganisation) aus Nordrhein-Westfalen, die aufgrund der schrecklichen Vorfälle von Kindesmissbrauch in dem Bundesland eingerichtet wurde, stellte ein Musterbeispiel für ein gut koordiniertes Vorgehen mit ausreichenden Ressourcen gegen einen ganzen Kriminalitätsbereich dar. Der Bundesvorstand des Kinderschutzbundes sprach davon, dass ein anlassloses Scannen verschlüsselter Kommunikation unverhältnismäßig und wenig zielführend sei. Hilfreicher seien der Ausbau von Strukturen und die generell bessere Sichtbarkeit von Polizei im Netz.

„Die Rückkehr der Uploadfilter und das Ende der Verschlüsselung“ ist kein Titel eines dystopischen Romans von George Orwell. Die EU- Kommission scheint ihre Vorschläge durchaus ernst zu meinen. Wenn sich Deutschland im Rat und in den anstehenden Verhandlungen nicht vehement für die Bürgerrechte auf europäischer Ebene einsetzt, könnte eine ähnliche Zwickmühle wie bei den Uploadfiltern in der Urheberrechtsdebatte drohen. Ein Recht auf Verschlüsselung, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist, wäre nicht mehr umsetzbar, wenn die Kommission sich mit ihren Vorschlägen durchsetzt.

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