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Wolodymyr Selenskyj ist Präsident der Ukraine.

© Ukraine Presidency/Planet Pix via ZUMA Press Wire/dpa

Kalte Dusche für Selenskyj: Nur eine EU-Mitgliedschaft light für Kiew?

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den Antrag zum EU-Beitritt vervollständigt. Doch am Ende könnten Kiew und Brüssel in ganz anderer Form verbunden werden.

Emmanuel Macron hat seinen ersten großen Auftritt nach seiner Wiederwahl zu Beginn der Woche genutzt, um eine neuen europapolitischen Vorstoß zu wagen: Frankreichs Staatschef schlug im Europaparlament in Straßburg eine neue politische Gemeinschaft in Europa vor, der Länder wie Großbritannien und die Türkei angehören könnten – aber eben auch die Ukraine, die sich einen Beitritt zum Club der 27 EU-Staaten erhofft.

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Auch bei seinem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montagabend wiederholte Macron seine Bedenken gegen einen möglichst schnellen EU-Beitritt der Ukraine, wie ihn Mitgliedstaaten wie Polen und die baltischen Länder befürworten. Es werde „mehrere Jahre, Jahrzehnte“ dauern, bevor die Ukraine die Standards der EU erreichen könne, sagte Macron.

Scholz findet Macrons Vorschlag „sehr interessant“

Der Gast aus Paris kündigte außerdem an, dass er seinen Vorschlag einer „EU-Mitgliedschaft light“ gemeinsam mit Scholz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj besprechen werde. Auch Scholz bezeichnete die von Macron vorgeschlagene neue politischen Gemeinschaft in Europa als „sehr interessant“.

Das ändert aber nichts daran, dass Selenskyj eine „EU-Mitgliedschaft light“ für sein Land wie eine kalte Dusche empfinden dürfte. Der ukrainische Staatschef hatte am Montagabend in seiner täglichen Videoansprache erklärt, dass sein Land inzwischen die zweite Hälfte der Antworten jenes Fragebogens nach Brüssel übermittelt habe, auf deren Basis die EU-Kommission nun die Beitrittsfähigkeit der Ukraine bewerten will.

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Im ersten Teil des Fragebogens für den Antrag auf die ukrainische EU-Mitgliedschaft ging es um wirtschaftliche und politische Themen, im zweiten Teil wurde die Übernahme des EU-Rechts durch die Regierung in Kiew behandelt. Nach den Worten von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die Brüsseler Behörde im kommenden Monat beurteilen, ob die Ukraine den Kandidatenstatus erhalten kann – die erste Stufe auf einem langen Weg zu einer möglichen Vollmitgliedschaft in der EU.

Allerdings bezweifeln Experten, dass eine EU-Mitgliedschaft für Kiew schnell zu haben sein wird. Vor allem die im Lande weit verbreitete Korruption gilt als Hindernis, so dass mindestens zehn Jahre vergehen dürften, bevor die Ukraine der Gemeinschaft beitreten könnte.

Polen will möglichst schnellen Beitritt Kiews

Die von Macron in Straßburg und Berlin losgetretene Debatte über eine neue politische Gemeinschaft in Europa dürfte in den kommenden Wochen und Monaten zeigen, wohin die europapolitische Reise für die Ukraine geht. Denkbar ist, dass Länder wie Polen sich dagegen aussprechen, der Ukraine statt der EU-Mitgliedschaft lediglich einen „Trostpreis“ zu verleihen. Dagegen argumentieren Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Belgien, Italien und die skandinavischen Staaten, dass ein Schnellverfahren für Kiew nicht möglich sei. Auch im Fall der Ukraine müsse ein Beitritt nach den üblichen Regularien ablaufen, heißt es.

Hinter Macrons Konzept steht die Idee, möglichst viele Länder auf dem europäischen Kontinent an die Gemeinschaft anzubinden und so unter anderem einer verstärkten geopolitischen Einflussnahme Russlands und Chinas vorzubeugen. Als möglichen Kandidaten für eine „EU light“ nannte Macron am Montagabend in Berlin ausdrücklich Bosnien-Herzegowina. Das Land hat zwar 2016 einen Beitrittsantrag in Brüssel gestellt. Während ein Beitritt aber für Sarajevo in weiter Ferne liegt, gibt es Befürchtungen, dass Kremlchef Präsident Wladimir Putin den russischen Einfluss in dem Balkanstaat demnächst ausdehnen könnte.

Auch Georgien und Moldau kommen in Betracht für Macrons Konzept

Vor diesem Hintergrund könnten auch Georgien und Moldau Kandidaten für Macrons neue politische Gemeinschaft in Europa sein. Der Staatschef nannte zudem Länder, die „gelegentlich seit Jahrzehnten“ mit Beitrittsfragen beschäftigt sind – eine Anspielung auf die Türkei, die zwar 2005 Beitrittsgespräche mit der EU aufgenommen hat, aber in der Zwischenzeit unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan keine Annäherung an die Werte der Gemeinschaft vollzogen, sondern sich im Gegenteil davon entfernt hat.

Umgekehrt hätte eine „EU-Mitgliedschaft light“ für Kiew den Vorteil, dass Putin damit im Rahmen einer Nachkriegsordnung im Anschluss an den Ukraine-Krieg eine weitere Demütigung erspart bliebe. Wie auch immer: Nachdem die EU-Kommission im Juni ihren Bericht über die Beitrittsfähigkeit Kiews vorgelegt hat, steht den Staats- und Regierungschefs der EU eine spannende Debatte über die Zukunft der Ukraine ins Haus.

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