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Endstation: Die Abschiebungshaftanstalt des Landes Hessen in Darmstadt. Statt bislang 20 bietet die umgebaute Anstalt ab dem 1. Februar für 80 Abschiebehäftlinge Platz.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Joe Biden erleichtert Einbürgerungen: Auch Deutschland sollte sich von Abschiebungen verabschieden

Radikaler Kurswechsel bei der Migration: Amerika müsse allen Menschen Schutz und Chancen bieten, sagt der neue US-Präsident. Das setzt Maßstäbe. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

In Deutschland lebten im vergangenen Jahr rund 280.000 ausreisepflichtige Ausländer. Etwa 10.000 davon wurden tatsächlich abgeschoben. Wegen der Corona-Pandemie und der haarsträubenden Zustände in griechischen Flüchtlingslagern waren die Zahlen derer, die „rückgeführt“ werden konnten, stark rückläufig.

Außerdem nahm die Zahl der „gescheiterten Abschiebungen“ zu. Gemeldet wurden rund 17.000 Versuche, die in der letzten Phase abgebrochen werden mussten – aufgrund von Krankheit, juristischer Einsprüche, fehlender Dokumente.

Für das Bürgerkriegsland Syrien gilt nach wie vor ein kompletter Abschiebestopp. Anders ist es im Fall Afghanistan. Allerdings ist die Rechtsprechung oft nicht einheitlich. Knapp 10.000 zufluchtsuchende Afghanen haben im vergangenen Jahr gegen abgelehnte Asylentscheide geklagt. In den meisten Fällen wurden deren negative Bescheide aufgehoben.

Die Kosten für Abschiebungen sind hoch. In viele spätere Abschiebepflichtige hat der Staat zuvor jahrelang investiert. Er hat die Asylantragsteller untergebracht, versorgt, die deutsche Sprache gelehrt, gesundheitlich versorgt. Er trägt die Kosten für das Asylverfahren, für zum Teil aufwändige Identitätsüberprüfungen und für den Rücktransport.

Joe Biden, der neue US-Präsident, hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Migrationspolitik seines Vorgängers, Donald Trump, radikal revidiert. Biden hat diverse Verfügungen unterzeichnet, um getrennte Familien zu vereinen und rund 700.000 minderjährige Migranten vor der Abschiebung zu bewahren.

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Außerdem schickte er einen Gesetzentwurf an den Kongress, der vorsieht, dass rund elf Millionen Menschen, die ohne gültige Papiere in den USA leben, sich innerhalb von acht Jahren einbürgern lassen können. Innerhalb von fünf Jahren sollen sie eine temporäre Arbeitserlaubnis oder eine Greencard erhalten. Biden versprach, dass es nicht erneut zu Massenabschiebungen kommt, wie sie auch während Barack Obamas Amtszeit üblich waren.

Mit drastischen Worten distanzierte sich der neue Präsident von der Politik seines Vorgängers, sprach von „moralischem Versagen“ und „nationaler Schande“. Trumps Richtlinien hätten „den Charakter Amerikas als Land der Möglichkeiten untergraben, das allen offensteht und alle willkommen heißt, die hierher kommen auf der Suche nach Schutz und Chancen“, sagte Biden. Für das Wesen der Nation und die Zukunft des Landes seien Einwanderer von besonderer Bedeutung.

Lebenswege werden blockiert, Träume zerstört

Von seinem Abschiebestopp ausgenommen sind freilich Ausländer ohne gültige Papiere, die unter Terror- oder Spionageverdacht stehen oder eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen.

Es ist höchste Zeit, auch in Deutschland darüber nachzudenken, ob Aufwand und Kosten von Abschiebungen in einem vernünftigen Verhältnis stehen zu deren humanitären Konsequenzen. Kinder werden aus Klassenverbänden gerissen, Beziehungen gekappt, Lebenswege blockiert, Träume zerstört.

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Von Abschiebung bedrohte Familien übernachten oft jahrelang nicht an einem Ort. Sie kommen nie wirklich an. Der innere Vorbehalt gegenüber dem Land, das sie gerne als neue Heimat empfinden würden, nagt an ihnen. Und warum? Damit alles seine Ordnung hat und nach Recht und Gesetz abläuft, heißt es.

Wie wäre es, wenn auch deutsche Migrationspolitik pragmatischer organisiert wird? Dann würde die Frage im Vordergrund stehen, ob den 280.000 ausreisepflichtigen Ausländern eine Perspektive geboten werden kann. Viele wollen arbeiten und sich integrieren. Viele haben Arbeit und sind integriert. Statt sich jahrelang Prozesse mit ihnen zu liefern und die Türen zu ihrer Zukunft mit einem mentalen Balken zu versperren, sollten Einbürgerungskriterien entwickelt werden.

Das Gerede von Rückführungszentren und einem Asylrecht, das kein Einwanderungsrecht sein darf, klingt hohl und selbstgerecht. Es ist inhuman, ineffizient, teuer, Ressourcen verschlingend und integrationshemmend, einen riesigen Abschiebeapparat aufrechtzuerhalten, an dessen Ende 10.000 von 280.000 Menschen das Land verlassen. Joe Biden hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die große Koalition, die Deutschland regiert, verharrt im Gestern.

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