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Am Donnerstag stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab.

© AFP

Jo Cox, Großbritannien und die EU: Plebiszite verstärken den Populismus

Seit den siebziger Jahren ist die Zahl der Volksreferenden in Europa um fast das Dreifache gestiegen. Den Populisten helfen sie, die Demokratie stärken sie indes nicht zwangsläufig. Ein Kommentar.

Die Liste ist unvollständig. Die Motive der Täter sind selten klar, oft nebulös. Auch die Opfer passen in keine klare Kategorie. Doch der Schock, den Attentate auf Repräsentanten des öffentlichen Lebens auslösen, sitzt jedesmal tief. John F. Kennedy, Ronald Reagan, Olof Palme, Itzhak Rabin, Johannes Paul II., Indira Gandhi, Alfred Herrhausen, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble, Henriette Reker. Nun kommt ein weiterer Name hinzu: Jo Cox, 41 Jahre alt, britische Labour-Abgeordnete, EU-Befürworterin. Ermordet wurde sie von einem Mann, der bei der Tat, laut Augenzeugen, „Britain first“ gerufen haben soll. Am Donnerstag stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Volksabstimmung und dem Mord an Jo Cox? Es ist zu früh, diese Frage eindeutig zu beantworten. Aber die Vermutung drängt sich auf, dass die aufgeheizte Debatte zumindest ein Faktor war, der in Betracht gezogen werden muss. Es geht ein Riss durch viele europäische Länder. Die Lagerbildung verläuft entlang der Reizworte Ausländer, Europa, Islam, Identität, kulturelle Traditionen. Großbritannien ist da keine Ausnahme. Auch Amerika ringt mit sich. Doch selten zuvor prallten die Standpunkte derart unversöhnlich aufeinander wie jetzt. Die Lautstärke der Botschaften ist wichtiger geworden als deren Inhalt. Die Vehemenz der Attacken gibt den Ausschlag, nicht das bessere Argument.

Referenden befördern die Polarisierung. Seit den siebziger Jahren ist deren Zahl in Europa um fast das Dreifache gestiegen. Das britische Magazin „Economist“ diagnostiziert bereits eine „Referendumania“. Direkte Demokratieformen, sagen deren Anhänger, beleben die Debatte, fördern die politische Willensbildung, erhöhen die Legitimation. Doch die Nachteile wiegen mindestens ebenso schwer. Die Beteiligung an Volksabstimmungen ist rückläufig. Das Ergebnis wird oft überlagert von themenfremden Erwägungen. Besonders aktivistische und/oder zahlungskräftige Initiatoren bestimmen die Art der Auseinandersetzung.

Läuft die Demokratie Amok?

Im US-Bundesstaat Kalifornien etwa sind Plebiszite ein Geschäft. Wer Geld hat, kann Unterschriften sammeln, Briefe versenden, Straßenwerbung betreiben. „Bei uns läuft die Demokratie Amok“, heißt es im „Golden State“. In den Niederlanden wiederum wurde vor kurzem über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgestimmt. 32 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich, eine Mehrheit lehnte den Vertrag ab. Viele wollten allerdings lediglich der Regierung eins auswischen. Nun weiß keiner in Brüssel, wie es mit der Ukraine weitergehen soll. Ähnlich ratlos wird man dort wohl sein, wenn die Ungarn über die Flüchtlingsverteilung abstimmen.

Die repräsentative Demokratie ist berechenbar und launenresistent. Laut Umfragen hat es in Deutschland zu bestimmten Zeiten Mehrheiten gegeben für die kommerzielle Sterbehilfe, die Todesstrafe, ein Beschneidungsverbot, die Thesen von Thilo Sarrazin, gegen Westbindung, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, Nachrüstung. Zum Wohle des Landes haben sich diese Mehrheiten nicht unmittelbar ausgewirkt. In freien und geheimen Wahlen werden Politiker mit einem Mandat ausgestattet. Es erlaubt ihnen, die Stimmungen eines Volkes nicht mit dessen Willen verwechseln zu müssen. Plebiszite verstärken den Populismus. Es ist Zeit, diesem Mechanismus entgegenzuwirken.

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