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"Mein Moment" von Hussein Ahmad: "Im Internet habe ich gesehen, dass es in Berlin die Syrische Straße gibt. Ich habe mich auf die Suche begeben, um davon ein Foto und ein Selfie zu machen. Die Straße in Berlin-Wedding erinnert mich seither immer an meine Heimat. Eines Tages möchte ich gerne dort wohnen – damit Syrien wenigstens in meinem Aufenthaltstitel auftaucht."

© Hussein Ahmad

#jetztschreibenwir: Von Syrien nach Berlin: Eine Wanderung nach vorne

Eine Reise, die in Syrien begann und nun in Berlin und Europa fortgesetzt wird: Auch in Berlin setzen junge Syrerinnen und Syrer die Idee fort, durch Wandern

Die Wanderung ist eine Reise nach vorne. Sie begann in Syrien mithilfe eines holländischen Priesters, bekannt als Pater Frans, und wird von den Erben seiner Botschaft, jungen Syrerinnen und Syrern, nach der Flucht aus dem Bürgerkrieg in Berlin und anderen Städten Europas fortgesetzt.

Die Idee des Wanderns entstand in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der syrischen Hauptstadt Damaskus und dann in Homs. Die Idee übernahmen die Wanderer vom Jesuitenpater Frans van der Lugt, der in der niederländischen Hauptstadt Amsterdam am 10. April 1938 geboren wurde. Gestorben ist er am 7. April 2014 in Homs: Der 75-Jährige wurde von einem maskierten Unbekannten gezielt erschossen.

Pater Frans war in der belagerten Stadt geblieben, weil er sie nicht im Stich lassen wollte. Von ihm, der seit 1966 in Syrien gelebt hatte, ist der Ausspruch überliefert: „Das syrische Volk ist einzigartig. Ich bekam viel von ihm. Ich will das Leiden mit ihm teilen.“ Noch im Januar 2014 hatte er in einer verwackelten Videobotschaft internationale Aufmerksamkeit und Hilfe gefordert – denn in Homs verhungerten und erfroren Menschen.

Die Wanderung, wie sie von Pater Frans initiiert wurde, ist eine Form des Gehens und des Übernachtens in der Natur. Die Wanderer sind Freunde der Natur. Sie wandern in den Wäldern, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Sie singen, musizieren, tanzen. Manchmal herrscht auch Stille bei den Wanderern. Dann meditiert man beim Gehen. Nach der Mittagspause wird eine Andacht gehalten. Hier werden Fragen gestellt, um sich kennenzulernen, und Themen diskutiert. Ziel ist die Verbindung der körperlichen und der geistigen Übung, um die freie und konstruktive Debatte zu fördern. Meist sind es mehr als hundert Personen, die an solch einer zwei- bis viertägigen Wanderung teilnehmen.

"Mein Moment", Adnan al Mekdad: "Diesen Weg in Damaskus bin ich sehr oft gegangen. Wenn ich abends nach der Arbeit noch irgendwo etwas essen gehen wollte oder einfach nur, um zu bummeln. Es ist der Platz in der Altstadt, an dem sich früher viele Leute getroffen haben. Auch Touristen kamen vor dem Krieg oft hierher, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Im Vordergrund sind Teile vom alten Tempel des Jupiter zu sehen. Und die Umayyada-Moschee ist ganz in der Nähe. Mir fehlt dieser Ort sehr, denn er steht für Freude und Frieden."
"Mein Moment", Adnan al Mekdad: "Diesen Weg in Damaskus bin ich sehr oft gegangen. Wenn ich abends nach der Arbeit noch irgendwo etwas essen gehen wollte oder einfach nur, um zu bummeln. Es ist der Platz in der Altstadt, an dem sich früher viele Leute getroffen haben. Auch Touristen kamen vor dem Krieg oft hierher, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Im Vordergrund sind Teile vom alten Tempel des Jupiter zu sehen. Und die Umayyada-Moschee ist ganz in der Nähe. Mir fehlt dieser Ort sehr, denn er steht für Freude und Frieden."

© Adnan al Mekdad

Frans gründete „die Wanderung im Land“ in der Stadt Homs. Er baute das Zentrum „Al Ard“ (Die Erde) in der Nähe von Homs auf, um Projekte zu entwickeln, die Menschen unterstützen und versorgen. Es entstanden landwirtschaftliche Projekte, ein Weinbetrieb, ein Pflegeheim für geistig Behinderte, ein Hotel für ausländische Gäste, ein Keramikbetrieb zur Unterstützung der Landfrauen und „das Haus des Friedens“. „Das Haus des Friedens“ war ein Gebetshaus für alle, die religiös waren und beten wollten.

Ziel war es, die verschiedenen Religionen miteinander in Kontakt zu bringen und die Unterschiede zwischen den Menschen, die um das Jesuitenzentrum herum lebten, zu beseitigen. Das Gebetshaus sollte in erster Linie dem Frieden dienen. Außerdem wurden geistige und interaktive Übungen, beispielsweise Zuhören, Toleranz und stilles Gehen, praktiziert. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten sowie Ausländer in Syrien, die an den Wanderungen teilnehmen wollten, wurden aufgenommen.

In Deutschland versuchen die Wanderer, an diese Tradition anzuknüpfen. Als einige aus dem ursprünglichen syrischen Wanderteam nach Europa kamen, wollten sie ihre Wanderung trotz der Gewalt in ihrer Heimat fortsetzen. Hier trafen sie auf Menschen, die versuchten, ihren Weg auf ihre Weise dort fortzusetzen, wo der Krieg ihn in den meisten syrischen Städten unterbrochen hatte. Einige jammerten über das neue Leben und rebellierten, da sie die Realität nicht wahrhaben wollten und sich somit nicht integrieren konnten. Andere wollten nicht mehr in der Vergangenheit leben und versuchten, sich in der neuen Gesellschaft vollständig zu integrieren, um sich von der Sehnsucht und ihren Folgen zu befreien. Einige suchten einen Mittelweg und setzten ihre Projekte, die sie in ihrer Heimat begannen, hier fort.

Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.
Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.

© Fidan Khalil

So ging es den Wanderern, die begannen, sich zu integrieren, die Sprache zu erlernen und ihre Ausbildung fortzusetzen. Zudem brachten sie ihre Kultur mit nach Europa, in der Hoffnung, diese international bekannt zu machen. Zweifellos wissen diese Wanderer, dass sie ihre Projekte, die sie in der Heimat gegründet haben, hier zwar anders und mit anderen Menschen fortsetzen müssen, der Zweck aber derselbe ist.

Das gilt auch für das Wanderteam, das versucht, seine Botschaft in Berlin zu verbreiten. Die Wanderer wollen Frans’ Wanderung fortsetzen. Eine Wanderung nach vorne mit dem Ziel, die Liebe zu verbreiten. Diese Idee geht auf einen Spruch des Paters Frans zurück: „Am Ende jeder Wanderung kommt man zum Ergebnis, dass keiner ungeliebt ist.“ Zudem hat die Wanderung in der Natur das Ziel, dem anderen die Möglichkeit zu geben, sich frei zu äußern, den eigenen Gedanken Ausdruck zu verleihen und sich durch den Kontakt mit bisher Unbekannten weiterzuentwickeln. Berlin wurde als Ausgangspunkt für die Wanderer gewählt, um die Reise nach vorne fortzusetzen. Die Wanderer kommen aus vielen Ländern in die deutsche Hauptstadt, um an der Wanderung teilzunehmen, im festen Glauben, dass das Leben weitergehen muss und dass Krieg die Wanderung nicht stoppen kann.

Die Wanderer repräsentieren Syrien so, wie es vor dem Krieg war. Denn auf ihrer Wanderung kommen Menschen aus allen syrischen Städten mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund ohne Scheu voreinander oder Hindernisse zusammen. Jeder, unabhängig von seiner Rasse, Nationalität und Religion, kann an der Wanderung teilnehmen.

Die Wanderer versuchen, Menschen über die von den politischen Ideologien geschaffenen geografischen Grenzen hinweg miteinander zu verbinden. Nach ihrer Auffassung behindern diese Ideologien die Entwicklung des menschlichen Denkens und verursachen Konflikte zwischen den Völkern. Denn die Erde soll für alle da sein, und die Wanderung kann weitergehen, wenn die Grenzen beseitigt werden, die die Menschen trennen. Aus diesem Grund öffnen die Wanderer ihre Herzen für jeden, der an der Wanderung teilnehmen will, unter der Bedingung, dass er andere respektiert und von den anderen respektiert wird. Unter den Wanderern sind nicht nur Syrer und Deutsche, sondern auch Italiener, Spanier, Holländer, Briten, Kolumbianer, Bulgaren, Palästinenser, Iraker, Kurden, Turkmenen, Syrisch-Aramäer, Drusen, Ismailiten und Asiaten.

Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.
Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.

© Fidan Khalil

Die Wanderung hat ihre eigene Organisation: Man trifft sich an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Gruppe, die aus mehr als hundert Personen besteht, fährt mit demselben Zug, schläft und wacht gemeinsam auf. Die Essenspausen und das Programm stehen zeitlich fest. Dies schafft bei den Teilnehmern ein Bewusstsein für die Organisation. Durch die Wanderung sammeln die Teilnehmer zudem viele wertvolle Erfahrungen.

Die Teilnahme an der Wanderung steht allen Menschen offen, um das syrische Volk besser kennenzulernen. Denn im Wanderteam sind Syrer aus allen Provinzen des Landes. Das Team ist der ideale Repräsentant der syrischen Gesellschaft. Die Syrer versuchen, sich in der neuen Gesellschaft, in die sie wegen des Krieges in der Heimat geflüchtet sind, zu integrieren. Vielleicht hilft die gemeinsame Wanderung den Europäern, eine große Zahl der syrischen Gäste in ihrer Heimat kennenzulernen. Denn: Die Wanderung ist ein einfacher Weg, um mit der syrischen Gesellschaft ohne Vorbedingung in Berührung zu kommen.

Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.
Die Wanderung „Vorwärts“: Ein Kulturprojekt, das in Syrien begonnen hat und jetzt auch in Deutschland weitergeführt wird.

© Fidan Khalil

Aus dem Arabischen übersetzt von Khaled Alzayed.

Fidan Khalil ist Journalist/in aus dem syrischen Aleppo. Sie hat Medienwissenschaften an der Universität Damaskus studiert und arbeitete

bei Newroz Syrian Media Networks als Chefredakteurin. Seit dem vergangenen Jahr lebt sie in Berlin.

Ihr Text erscheint im Rahmen der Tagesspiegel-Ausgabe vom 15. Oktober 2015, die von geflüchteten Journalisten gestaltet worden ist.  

Fidan Khalil

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