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Seine Zeit läuft ab: EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

© picture alliance/ASSOCIATED PRESS

Jean-Claude Juncker geht: Mr. Europa kämpft um sein politisches Vermächtnis

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker scheidet im Oktober aus dem Amt. Der Luxemburger ringt mit der Frage, was er seit 2014 erreicht hat.

Vor zwei Wochen hat Jean-Claude Juncker schon einmal eine vorläufige Bilanz gezogen. Im Pressesaal des Brüsseler Kommissionsgebäudes umklammerte der Luxemburger mit der Rechten das Pult. Seit 2014 steht der 64-Jährige an der Spitze der EU-Kommission, nach der Europawahl wird er abtreten. Bei seiner vorläufigen Bilanz zeigte er sich zerknirscht. „Keiner spricht von unseren Erfolgen“, klagte der scheidende Kommissionspräsident.

Bis Ende Oktober dauert Junckers Amtszeit noch. Er weiß, dass er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nutzen muss, so lange er noch eine große Rolle in der europäischen Politik spielt. Nach der Europawahl, die in den 28 EU-Ländern in dieser Woche von Donnerstag bis Sonntag stattfindet, werden seine möglichen Nachfolger von sich reden machen – der Deutsche Manfred Weber, der Niederländer Frans Timmermans oder jemand, den oder die bislang noch niemand so richtig auf dem Schirm hatte.

Seine Erfolgsbilanz: 12,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze

Schon Monate vor dem Abschied von seinem Schreibtisch im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes ist Juncker dabei, die aus seiner Sicht richtige Lesart seiner fünfjährigen Amtszeit zu verbreiten. Also wiederholte er auch vor zwei Wochen noch einmal die wichtigsten Kennzahlen: In den vergangenen viereinhalb Jahren wurden in der Europäischen Union 12,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosenquote ging zurück. Und die Investitionen kletterten wieder auf das Niveau vor dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008.

Allerdings ist das nur ein Teil der Geschichte. Zu Junckers Bilanz gehört nämlich auch, dass möglicherweise demnächst erstmals in der EU-Geschichte mit Großbritannien ein Land die Gemeinschaft verlässt. Juncker war persönlich sichtlich getroffen, als die Briten bei ihrem Referendum am 23. Juni 2016 mit „Nein“ stimmten.

Am Morgen des 24. Juni 2016 wachen die Menschen in der EU mit der Schock-Nachricht auf, dass in Großbritannien knapp 52 Prozent für den Exit aus der EU votiert haben. Auf der Insel jubelt das Boulevardblatt „The Sun“, das zuvor jahrelang Stimmung gegen die britische Mitgliedschaft im Club der Europäer gemacht hatte, mit der höhnischen Titelzeile „See EU later!“ über das Ergebnis des Referendums.

Der Brexit beschäftigt den Luxemburger bis heute

Gegen Mittag, als die Telefondiplomatie zwischen der Brüsseler Zentrale und den Hauptstädten der EU-Mitgliederländer schon auf Hochtouren läuft, betritt Juncker den Presseraum des Kommissionsgebäudes. Er ringt mit den Worten, als er auf Englisch „the next situation in the EU“ erläutern will, also das weitere Vorgehen in der Europäischen Union nach dem Brexit-Desaster. „Ich persönlich bin sehr traurig über diese Entscheidung“, sagt er angesichts der Entscheidung der Briten. Es ist für niemanden in dieser Situation zu übersehen, wie sehr die Ereignisse der vergangenen Nacht ihn mitgenommen haben.

Auch noch in der folgenden Woche, als die Europäische Union zum Krisengipfel nach Brüssel einlädt, wirkt Juncker angeschlagen. Von Journalisten wird er gefragt, ob der Ausgang der Volksabstimmung auch auf seine Kappe geht. EU-Ratschef Donald Tusk springt dem Luxemburger zur Seite: „Jean-Claude Juncker ist der Letzte, dem man vorwerfen kann, für das Ergebnis des Referendums verantwortlich zu sein.“

Das „No“ der Briten beschäftigt Juncker aber bis heute. Bei seiner Bilanz-Pressekonferenz merkte er selbstkritisch an, dass er sich entgegen dem Ratschlag des damaligen britischen Regierungschefs David Cameron bei der britischen Referendumskampagne doch besser persönlich hätte einschalten sollen. „Wir wären die einzigen gewesen, die die im Umlauf befindlichen Lügen zerstört hätten“, sagte er im Rückblick. „Es war ein Fehler, dass ich in einem entscheidenden Moment geschwiegen habe.“

"Kommission der letzten Chance"

Im Nachhinein war es vielleicht auch ein Fehler, dass Juncker den Beginn seiner Amtszeit vor viereinhalb Jahren mit so dramatischen Worten begleitet hat. Er sprach von der „Kommission der letzten Chance“. Entweder gelinge es, die Bürger wieder für das europäische Projekt zu gewinnen, „oder wir scheitern“. So lautete sein Appell im Oktober 2014 vor den Abgeordneten des Europaparlaments in Straßburg. Damals wurde es an dieser Stelle von Junckers Rede im Parlament ganz still.

Heute muss man sagen, dass es auch in seiner Amtszeit nicht gelungen ist, die Bürger wieder vollständig für die EU zurückzugewinnen. Auch sein Motto, dass sich die EU möglichst um die großen Themen kümmern und sich aus Regulierungs-Kleinkram heraushalten solle, änderte nichts an einem weit verbreiteten Akzeptanzproblem der Gemeinschaft. Sicherlich hat der Brexit EU-weit dazu beigetragen, dass die Zustimmung zur Gemeinschaft insgesamt wieder angestiegen ist. Aber bei der kommenden Europawahl drohen die Rechtspopulisten in Ländern wie Frankreich, Italien und Ungarn erneut das Rennen zu machen.

In seiner Amtszeit wurde der Graben zwischen Ost und West tiefer

Obendrein musste Juncker in seiner Amtszeit mit zusehen, wie der Graben zwischen Ost und West in der EU immer tiefer wurde. Ungarns Regierungschef Viktor Orban nutzte die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016, um gegen die EU-Beschlüsse zur Verteilung der Migranten zu Felde zu ziehen. Auch die rechtsstaatlichen Standards, die in der EU gelten, sind Orban und der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) egal. Sowohl Ungarn als auch Polen müssen sich wegen der fortgesetzten Rechtsstaats-Verstöße inzwischen einem Brüsseler Verfahren unterziehen, das theoretisch zum Entzug der Stimmrechte führen könnte.

Ungarns Regierungschef Viktor Orban.
Ungarns Regierungschef Viktor Orban.

© imago images / foto2press

Dies hält insbesondere Orban nicht davon ab, sich und seine Regierungspartei Fidesz zum Gegenpol zur EU-Kommission zu machen, deren Aufgaben in der Überwachung die EU-Verträge besteht.

Während Junckers Amtszeit haben neue Bündnisse unter EU-Staaten, die eine eher skeptische Haltung gegenüber Brüssel an den Tag legen, an Boden gewonnen. Orban flirtet mit dem starken Mann Italiens, Innenminister Matteo Salvini. Dem Lager der Rechtspopulisten, dem auch die österreichische FPÖ angehört, ist inzwischen sogar der Brückenschlag in die bürgerliche Mitte gelungen – dank des Wiener Regierungschefs Sebastian Kurz.

Das deutsch-französische Duo, das in der Vergangenheit noch entscheidende Impulse setzen konnte, blieb angesichts der neuen Lagerbildung in der EU in den vergangenen Jahren blass.

Natürlich kann Juncker nichts dafür, dass es in Mitgliedstaaten wie Italien oder Österreich während seiner Amtszeit einen Rechtsruck gegeben hat. Aber er hätte der Gemeinschaft schon gerne den Weg für künftige Reformen aufgezeigt, welche die EU wieder attraktiver machen würde.

Reformvorschläge blieben unbeachtet

Wer den Christdemokraten auf die Reformfähigkeit der Gemeinschaft mit ihren 28 Mitgliedern und deren ganz unterschiedlichen Wünschen nach „mehr“ oder „weniger“ Europa anspricht, kann einen sehr dünnhäutigen Kommissionspräsidenten erleben. Es missfällt dem 64-Jährigen, dass alle Welt im September 2017 von den Reformvorschlägen redete, die der französische Präsident Emmanuel Macron damals bei seiner Rede an der Sorbonne in Paris vorlegte. Seine eigenen Vorschläge, die er fast zeitgleich zur Überwindung der Spaltungstendenzen in der EU machte – darunter die weitere Ausdehnung der Gemeinschaftswährung Euro auf fast alle Mitgliedstaaten –, blieben hingegen weitgehend unbeachtet.

Immerhin ist es Juncker in seiner Amtszeit gelungen, den europäischen Laden zusammenzuhalten, wenn man einmal vom ungewissen Ausgang des Brexit-Dramas absieht. Zu Recht rechnet er es sich als größtes Verdienst an, 2015 auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise einen Rauswurf Athens aus der Euro-Zone verhindert zu haben. „Ich bin stolz darauf“, sagte der Kommissionspräsident jüngst.

Juncker half mit, die Griechen im Euro zu halten

In der Tat nahm der Chef der Brüssel Behörde vor vier Jahren eine entscheidende Rolle ein, als es zwischen Frankreich und Deutschland in der Griechenland-Krise zu vermitteln galt. Die Bundesregierung, allen voran der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), spielte mit dem Gedanken, Griechenland vorübergehend aus der Euro-Zone zu nehmen. Frankreich vertrat die entgegengesetzte Linie – und setzte sich, auch mit Hilfe Junckers, schließlich im Kreis der Euro-Länder durch.

Die jetzt anstehenden Europawahlen erinnern noch einmal daran, wie Juncker ins Amt des Kommissionspräsidenten kam. Als vor fünf Jahren die EU-Bürger zur Wahl gingen, war es keineswegs klar, dass Juncker auf den Brüsseler Chefposten kommen würde. Er trat damals als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Dabei war nicht sicher, ob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) dem Luxemburger den Weg in die Brüsseler Schaltzentrale ebnen würde. Die Kanzlerin stimmte am Ende aber doch der Berufung Junckers zu, was schließlich im Kreis der Staats- und Regierungschefs den Ausschlag gab.

Gerüchte um angebliches Alkoholproblem

Es kam nicht von ungefähr, dass damals, als es um den möglichen Karrieresprung Junckers ging, vor allem in der britischen Presse die Gerüchte um dessen angebliches Alkoholproblem hochgekocht wurden. Diese Gerüchte holten ihn während seiner Amtszeit immer wieder ein. Nachdem er im Juli vergangenen Jahres bei einem Nato-Gipfel in Brüssel von mehreren Staats- und Regierungschefs gestützt werden musste, erklärte sein Sprecher Margaritis Schinas lang und breit, dass kein Alkohol im Spiel war.

Auch Juncker selbst hat derartige Andeutungen stets zurückgewiesen. So erzählte er Journalisten vor zwei Jahren, er habe ein Gleichgewichtsproblem mit seinem linken Bein, das ihn dazu zwinge, sich beim Treppensteigen am Geländer festzuhalten. Dieses Problem rühre von einem schweren Autounfall im Jahr 1989 her, nach dem er drei Wochen im Koma lag. Angesichts der ständigen Vorwürfe suchte Juncker vor den versammelten Brüsseler Medienvertretern auch einmal Zuflucht bei Christian Morgenstern: „Auf euren Kleinkram lach’ ich, Philosoph aus heitrer Höh’“, zitierte er den Dichter.

Verhandlungserfolg im Weißen Haus

Und dann lieferte er im Juli vergangenen Jahres persönlich einen Beleg für seine Amtsfähigkeit ab, als er im Weißen Haus eine Vereinbarung mit US-Präsident Donald Trump erzielte, mit der die drohenden Strafzölle auf europäische Autoimporte vorerst vom Tisch waren. „Ich bin für einen Deal hergekommen, und wir haben einen Deal“, frohlockte der Chef der Brüsseler Behörde anschließend. Nach dem mehrstündigen Gespräch mit Trump machte er Station in einem Washingtoner Think Tank. „Ich habe es geschafft“, sagte er dort mit einer Mischung aus Erstaunen und Selbstzufriedenheit.

Jubel und Buhrufe aus den Mitgliedstaaten

Trotz seines Verhandlungserfolges im Weißen Haus dürfte Juncker im Rückblick auf seine Amtszeit vor allem eines plagen: Die Mitgliedstaaten, die die EU eigentlich tragen sollen, erklären Brüssel je nach Belieben zum Buhmann und jubeln die Gemeinschaft bei nächster Gelegenheit wieder hoch. „Wenn es regnet, dann ist Brüssel verantwortlich; scheint die Sonne, war es Berlin“, lautet schon seit vielen Jahren ein Bonmot in der EU-Hauptstadt. Mit den Wahlerfolgen der Populisten in Italien und anderen Ländern hat sich der Trend, der EU sämtliche nationalen Missstände anzukreiden, noch einmal verstärkt.

Es ist kein Zufall, dass die Brüsseler Behörde jüngst kritisierte, es gebe eine Tendenz bei den Regierungen, „Erfolge zu nationalisieren und Scheitern zu europäisieren“. Kein System könne überleben, hieß es in der Erklärung der Kommission weiter, „wenn seine lautesten Kritiker diejenigen sind, die für seine Gestaltung mitverantwortlich sind“.

Ob zu den Staaten, die für dieses europäische Dilemma verantwortlich sind, demnächst auch Großbritannien gehören wird, wird sich möglicherweise erst unter Junckers Nachfolger oder seiner Nachfolgerin entscheiden. Die Frage, ob er von einem Verbleib oder von einem Ausstieg der Briten ausgehe, beantwortet Juncker so: „Wenn sie bleiben, bleiben sie. Wenn sie gehen, gehen sie.“ Zumindest seinen Humor hat er nicht verloren.

Dieser Text erschien am 21. Mai 2019 in "Agenda", einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint.

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