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Erweckungserlebnis. Schon als Kind hat sich Joachim Kühn gefragt: Wie ist das, wenn ich richtig spiele? Was mache ich, wenn ich ich selbst bin?

© Javier Echezarreta/dpa

Jazz: Der Tastensinn des Joachim Kühn

Wenn er am Klavier sitzt, ist es, als würden zwei Menschen gleichzeitig spielen. Der Jazzpianist Joachim Kühn ist radikal, rätselhaft, weltberühmt - und auch mit 75 noch auf der Suche.

Am Klavier krümmt sich der Mann über die Tasten, als wollte er sie herausreißen, sein mächtiges Löwenhaupt schwingt hin und her, als wollte er, was er in seinem Kopf hat, herausschütteln. Die Augen geschlossen, lässt er seine Finger über das Instrument fliegen wie nichts. Dieses Bild bietet sich einem, wenn Joachim Kühn spielt.

Es ist das Bild eines Jazzpianisten, dessen Musik hinter den Gedanken stattfindet, in einem Raum sich auflösenden Wissens. Dorthin will er, immer wieder. Seit er diesen Raum mit etwa 14 Jahren entdeckt hat.

Man müsse sich darauf vorbereiten, nichts mehr im Kopf zu haben, sagt Joachim Kühn bei einem Treffen in Berlin. Denn zum Wesen des Jazz, wie er ihn versteht, gehört eine Entfesselung, die die Freiheit von einem selbst miteinschließt. Aber geht das? Ist die Rede von der absoluten Freiheit nicht vielmehr ein Jazz-Märchen, dem diese Musik seit mehr als einem halben Jahrhundert ihr verstiegenes Image verdankt?

Das Gespräch mit dem Pianisten findet ein paar Monate vor seinem 75. Geburtstag in einem alten Westberliner Hotel statt. Die Spiegel an den Wänden des Foyers sind angelaufen, die Ledersofas durchgesessen. Kühn erscheint in blauem Baumwollanzug und blauem Hemd, ein schwarzes Tuch um den Hals geschlungen, und muss erst mal vor die Tür in die winterliche Kälte, um zu rauchen. Er ist oft in der Hauptstadt, aus familiären Gründen, weil sein Bruder Rolf hier lebt. Für den Rest der kalten Jahreszeit zieht er sich gerne nach Ibiza zurück und verfällt in eine Art kreativen Schlummer. Er nennt das Improvisationstage. An denen improvisiere er das Leben, sagt er.

Schon als Kind träumte er von einem solchen Domizil, einem Haus auf einer warmen Insel. Er hat es im Naturpark Ses Salines gefunden. Die Fenster seines Musikzimmers gehen aufs Meer hinaus. Er spielt und sieht dabei die Salzbassins unter sich in der Sonne funkeln. Aber Joachim Kühn zu fragen, ob er diesen Blick brauche als Inspiration, ist ganz falsch.

Brauchen?, grummelt er.

Das Wort klinge nicht schön. Was hat große Kunst mit Brauchen zu tun?

Aber Rücksicht müsse er dort auf niemanden nehmen, oder?

Rücksicht komme in seinem Wortschatz überhaupt nicht vor, sagt Kühn und schiebt sein eindrucksvolles, altersloses Granitgesicht nach vorne. „Ich versuche, besser Musik zu spielen“, sagt er mit warmer, rauer Stimme, „damit bin ich den ganzen Tag beschäftigt.“

Das Gehör durch Lärm ruiniert

Joachim Kühn ist eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur, dass er vielleicht der einzige deutsche Jazzmusiker von Weltruf ist. Man kann ihn nach Taipeh oder Sydney, Bukarest oder Montreux verfrachten und überall beeindruckt er sein Publikum mit seinem Stil, einer Mischung aus unbändiger Energie und europäischem Nonkonformismus. Immer wieder trieb er Entwicklungen voran, spielte mit den Größten seiner Zunft und blieb auf der Höhe der Zeit weit über den Punkt hinaus, an dem es um Leute seiner Generation still wurde. Gerade erst wieder begeistert er die Fachwelt mit seinen Klavierinterpretationen des erratischen Werks von Ornette Coleman, seines „Helden“, der seinerzeit auf Pianisten verzichtet hatte – bis er schließlich auf Kühn traf.

Trotzdem ist Kühn der große Unverstandene. Da sind zu viele Brüche und Stilwechsel, zu viel brachiale Wucht neben filigraner Zärtlichkeit. Mal lotet Kühn die Abgründe des freien Spiels aus, mal versenkt er sich in den schematischen Groove und Lärm des Fusion-Rock und übt so laut am Synthesizer, dass er sein Gehör ruiniert. Der Jazzkritiker und -musiker Michael Naura bezeichnete Kühn als "Hermaphroditen der Szene" und meinte, seine Musik sei "wie ein Glas Wasser ausschütten".

Nichts scheint Kühns Interesse dauerhaft zu fesseln. Schätzt er doch die Einsamkeit des Solopianisten ebenso wie den intensiven Austausch in einer Trio-Formation. Er kann gegen ein ganzes Orchester anspielen, um im nächsten Moment wieder selbst eines zu sein. Woher rührt dieser unstillbare Wunsch, sich gegen das zu wenden, was er eben noch geliebt hat?

Als Kühns Name erstmals Ende der 60er Jahre in einem Fernsehbeitrag des NDR erwähnt wird, zeigt sich der Reporter verwundert, „dass der freieste und revolutionärste deutsche Jazzpianist aus der DDR stammt und erst in die Bundesrepublik kam, als sein Ruhm schon begründet war“. Im Westen dachte man wohl, dass nur freie Gesellschaften den Wunsch nach mehr Freiheit weckten. Über die DDR seiner Kindheit sagt der gebürtige Leipziger, dass sie „so grau und negativ, die Menschen so komisch gewesen seien, dass ich wusste: Das konnte das Leben nicht sein.“

Und wie er dasitzt über den Tisch des Speisesaals gebeugt und im jovialen Tonfall des ewigen Hippies davon erzählend, dass er in geschäftlichen Belangen eine Null sei, nicht mal einen Computer besitze, nur ein altes Faxgerät, über das er mit der Welt kommuniziere, ihn aber außer Musik sowieso nichts interessiere, da begreift man, dass wirkliche Freiheit nicht bloß Formen sprengt. Sie ist radikaler. Sie ist das Leben selbst. „Ich kann 24 Stunden am Tag machen, was ich will“, sagt er.

Ein Kind gegen die Angst

Mit fünf erhielt Kühn Klavierunterricht. Seine Mutter trieb ihn dazu, was er im Nachhinein für einen Segen hält. Mit sechs gab er sein erstes Konzert an der Schule. Wenn du nicht üben willst, drohte seine Mutter, dann musst du eben in die Fabrik gehen.

In die Fabrik? Um Gottes willen!

Als Sohn des Zirkusartisten Kurt Kühn fühlt man sich in einem Staat, der Fabrikarbeiter verherrlicht, vermutlich per se deplatziert. Zu Hause sieht er den Vater auf dem Rücken liegend und eine Leiter auf den Füßen balancierend, während manchmal eines der Kinder hinaufklettert. Der Akrobatenvater ist eine Berühmtheit. Mit seinem Bruder entwickelte er in den 20er Jahren eine Nummer, bei der er den anderen auf dem Kopf balancierte, während der auf dem Kopf stand, ohne dass sie einen Ring benutzten.

Das Leben als Balanceakt, die Familie war gut darin. Als Joachim Kühn im März 1944 zur Welt kommt, leiden seine Eltern große Angst. Grete Kühn, geborene Moses, droht als Jüdin von den Nazis abgeholt zu werden. Zwei ihrer Schwestern sind bereits in Lagern verschwunden. Da trifft kurz nach der Entbindung auch für Kühns Mutter der Deportationsbescheid ein. Der Vater spricht bei der Gestapo vor, erleidet einen Nervenzusammenbruch und erreicht immerhin einen Aufschub um ein halbes Jahr. Das genügt. In den Wirren des Kriegsendes vergisst man wohl, Grete Kühn umbringen zu wollen. Als wäre der Vorrat an Angst damit aufgebraucht, wird Joachim Kühn fortan ziemlich furchtlos durch die Welt gehen.

Er sagt, er könne 24 Stunden am Tag machen, was er wolle. Und darum geht es im Jazz.
Er sagt, er könne 24 Stunden am Tag machen, was er wolle. Und darum geht es im Jazz.

© Doris Spiekermann-Klaas

Er wächst behütet auf und kann sich nicht erinnern, jemals Auseinandersetzungen in der Familie erlebt zu haben. „Das heißt nicht, dass man immer einverstanden sein muss“, sagt er. „Aber es steht einem nicht zu, jemanden zu bevormunden.“ Da ist er also angelegt, der Geist der Freiheit, der in einer Fabrik vermutlich am allerwenigsten anzutreffen wäre.

Deshalb übt Kühn. Übt und übt. Bach, Bach und immer wieder Bach. Was die Grundlage legt für seine Rasanz am Klavier, seine wilde Kontrolle. Selbst in hitzigsten Ausbrüchen scheint er immer die richtige Tür zu kennen, um wieder zurückzufinden zu den anderen, gemäßigteren Gemütern. Bis heute übt er jeden Tag, bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn er es nicht tut.

Er, der Bach-Schüler, versucht sich bereits an Boogie Woogie, Swing und improvisiert, als ihn sein Bruder Rolf, 15 Jahre älter und ab 1950 beim Rias als Klarinettist beschäftigt, zu einem Konzert von Chet Baker nach Berlin mitnimmt. Damals ist der hagere Trompeter mit dem Hollywood-Gesicht eine Galionsfigur des Cool Jazz, ein Superstar. „Nach diesem Konzert war mir klar, dass ich Jazzmusiker werden wollte“, sagt Kühn über sein zehnjähriges Ich. „Man steht auf der Bühne, spielt ein Solo, um sich darin auszudrücken, und das ist der Sinn des Lebens, nichts anderes.“

Chet Baker zeigte ihm den Weg

Doch in der DDR gibt es den Beruf des Jazzmusikers nicht. Die Partei streitet mit sich selbst um die Frage, ob der „Neger“ Louis Armstrong ein Opfer des Imperialismus ist oder Mittäter. Für Kühn ist Armstrong ein Held. Dann kommt Chet Baker dazwischen. Die lässige Art, mit der Baker auf der Bühne einfach nur rumhängt, zieht den Jungen in den Bann. Was er nicht weiß: Baker und seine Begleiter sind als Heroinjunkies meistens nur zugedröhnt.

Kühn mag Bakers Pianisten Bobby Timmons und eignet sich dessen eigenwillige Stilistik an. Doch sitzt Kühn eines Tages zu Hause am Klavier und denkt: Ich kopiere ja nur. Er fragt sich: Wie ist das, wenn ich richtig spiele, was mache ich, wenn ich ich selbst bin?

Er lässt die rechte Hand über die Tasten laufen.

Erst mal nur die Rechte.

Um zu sehen, was sie tut.

Innerhalb weniger Minuten entscheidet sich sein weiterer Lebensweg. „Das ist mein Spiel“, weiß er. „Ich habe mich selbst entdeckt in dem Moment. Damit konnte ich anfangen zu arbeiten.“ Er würde keine Kompromisse mehr eingehen. „Ich wollte nur noch spielen, was mir gefiel. Nur noch das verfolgen, was ich selbst fühlte. Das ist die Wahrheit in der Musik.“ Und mit dieser Haltung steckt er andere Musiker in der DDR an. Der Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky, zehn Jahre älter, besucht ihn in Leipzig und sagt später, dass ihn Kühns Konsequenz sehr beeinflusst habe. Kein anderer sei so stark fokussiert auf Musik.

Die Lockenmähne eines Rockstars

Doch in der DDR kann er nicht bleiben. Ein Musikwettbewerb in Wien macht es 1966 möglich. Seine Eltern bringen ihn nicht zum Bahnhof. Sie fürchten, dass ein tränenreicher Abschied seine Fluchtpläne verraten könnte.

Der Jazz erlebt zu der Zeit rasante Metamorphosen, wird immer freier. Ab 1969 halten unter dem Einfluss von Jimi Hendrix und Pink Floyd elektronische Instrumente Einzug. Kühn bewundert auch Mick Jagger und Jim Morrison und entfernt sich von seinen freudlosen deutschen Wurzeln, so weit er nur kann. In den 70ern ist seine volle Lockenmähne die eines Rockstars würdig, in Kalifornien lebend, gebärdet er sich als Adonis im Tigerstreifen-Unterhemd, der den federnden Groove von Funk und Soul Jazz entdeckt.

Viele Moden kostet er in dem Bewusstsein ihres baldigen Endes aus. Hat sich eine Sache wie Free Rock abgenutzt, geht er umstandslos zur nächsten über. Konstanten in seinem unermüdlichen Schaffen gibt es nur in Form des Trios mit Jean-Francois Jenny-Clark am Bass und Daniel Humair am Schlagzeug. Die beiden Franzosen hat er kurz nach seinem Umzug nach Paris kennengelernt, als sie 1971 gemeinsam am Soundtrack von Bertoluccis „Der Letzte Tango in Paris“ mitgewirkt haben. Mit den Jahren wird dieses Trio eine hoch virtuose, gespenstisch gut abgestimmte und sehr europäische Antwort auf die Frage geben, wie viel Freiheit ein Einzelner beanspruchen darf, ohne zu weit zu gehen.

„Totale Abstraktion war mir nie genug“, sagt Kühn. „Es muss sinnvolle Musik sein.“ Um diese Spannung aufzulösen, hat er sein eigenes Improvisationsschema entwickelt, „Diminished Augmented System“ genannt, innerhalb dessen er sich vollkommen frei bewegen kann. „Indem eine Hand spontan melodischen Linien folgt, improvisiere ich mit der anderen Hand Harmonien.“ Das Solo findet auf zwei Ebenen gleichzeitig statt, die sich unabhängig voneinander ereignen. „Als wenn zwei Musiker spielen würden.“

Das System für sich entdeckt hat Kühn 1995 in der Zusammenarbeit mit Ornette Coleman, dem Free-Jazz-Pionier. Kühn bekommt von ihm nur Melodien überreicht, die aus wenigen Tönen bestehen. Und Coleman fordert: „Make the cards,“ Kühn soll der Melodie eine Farbe geben, als handelte es sich um ein Kartenspiel, mit Akkorden, die für ihn Sinn ergeben. Als keiner der üblichen Jazz-Akkorde passen will, probiert er es mit einer Kombination aus übermäßigen und verminderten Akkorden. Es öffnet sich ihm zum zweiten Mal, seit er in seinem Kinderzimmer das freie Spiel entdeckt hat, ein musikalisches Universum. Seither könne er „sinnvoller freier spielen“, wie Kühn sagt, ohne dass er darüber nachdenken müsse.

Alles, was verfliegt

Kühn ist in einem Alter, in dem viele Jazzmusiker ihr Erbe verwalten und sich auf Traditionen beziehen, die sie geprägt haben. Kühn tut das nicht. Als 1998 sein Freund und Weggefährte Jean-Francois Jenny-Clark stirbt, gerät er in eine schwere Krise. Es dauert eine ganze Weile, bis er wieder ein Trio zusammenstellt. Diesmal bestehend aus ihm, einem Marokkaner und einem Spanier, beide stark in der Kultur ihres Landes verwurzelt, was ihn zwingt, sich fremden Einflüssen zu öffnen. Er reist mit seinem Trio in die Sahara, um mit Einheimischen zu spielen. In dem Dokumentarfilm „Transmitting“, der über diesen Trip entsteht, sagt er, dass es nicht entscheidend sei, woher jemand stamme, sondern wohin er unterwegs sei.

Gibt es nichts, was ihn bindet?

Da sind die Platten, die er aufgenommen und an denen er mitgewirkt hat, es müssen hunderte sein. Da sind mehr als 500 Stunden Material, das er mit Ornette Coleman bei gemeinsamen Sessions aufnahm, sorgsam verstaut. Da sind die Odol-Flaschen und Flakons auf Treppenstufen, Tischen und an anderen Orten seines Hauses auf Ibiza verteilt, ebenfalls zu Hunderten. Joachim Kühn hält durchaus an Dingen fest. An solchen, die nur für einen flüchtigen Moment interessant sind wie ein Duft, ein Klang.

Er weiß um die Unmöglichkeit. Er will sogar, dass sich in Luft auflöst, was er denkt. Will, dass sich Gefühl durch Intensität legitimiert. Denn es ist ein schmerzhafter Widerspruch für einen Jazzmusiker, dass er in der Musik, die ihn erfüllt, seiner eigenen Vergänglichkeit am deutlichsten begegnet. Niemand hat das so schön formuliert wie Eric Dolphy, Wegbereiter des Free Jazz, als er sagte: „Wenn Musik vorbei ist, ist sie in der Luft verflogen. Du kannst sie nie wieder einfangen.“

Beim Spielen schüttelt Kühn den Kopf.

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