zum Hauptinhalt
Vor der Neuen Wache.

© Hannibal Hanschke/Reuters-Pool/dpa

Jahrestag des Kriegsendes: Steinmeier: "Die Erinnerung fordert und verpflichtet uns"

Im kleinen Kreis: Die Staatsspitze begeht den 75. Jahrestag des Kriegsendes allein und mit Abstand. Der Bundespräsident warnt vor dem Bösen im neuen Gewand.

Fünf Kränze mit schwarz-rot-goldener Schleife, in gebührendem Abstand zueinander. Davor mit dem gleichen Abstand zueinander die fünf Vertreter der deutschen Verfassungsorgane: Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sowie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle.

Es gibt viele Bilder zur Coronakrise, aber kaum eines stellt diese neue Normalität, die keine ist, so eindringlich dar. Berlin hat diesen 8. Mai 2020, den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, einmalig zum Feiertag erklärt. Monatelang wurde ein Staatsakt mit über 1500 Gästen vor dem Reichstagsgebäude vorbereitet. Dann kam Corona. Und so gibt es nur eine kurze, aber eindringliche Zeremonie in der Neuen Wache Unter den Linden, zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Mit diesem Innehalten der Verfassungsorgane vor einer Nachbildung der Plastik „Mutter mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz. Nach dem Richten der Kränze spielt Lorenz Jansky, Trompeter der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, „Der gute Kamerad“.

Vor der Neuen Wache hält Steinmeier eine Ansprache, in weitem Abstand sitzen die anderen vier daneben, auch eine einprägsame Szene an einem Tag, der ganz anders geplant war, aber im Gedächtnis bleiben wird – als nachdenkliches, stilles Gedenken an die 55 bis 60 Millionen Opfer des Krieges, darunter sechs Millionen Juden, ausgelöst durch deutsches Weltmachtstreben und Rassenwahn.

Brücken der Versöhnung

Das Eindrückliche an dieser Zeremonie liegt auch an Steinmeier. Er hat in diesem Erinnerungsjahr mit seinen Worten immer wieder Brücken der Versöhnung gebaut, vor allem mit seiner Rede im Januar in Yad Vashem, als sich sogar Holocaust-Opfer dafür bei ihm bedankten. In Jerusalem traf er zum Beispiel auch die KZ-Überlebende Giselle Cycowicz. „Vor 75 Jahren waren wir Todgeweihte, in denen noch ein letzter Rest Leben war“, berichtete sie damals Steinmeier in einem Stuhlkreis mit anderen Überlebenden. Ihr seid frei, hatten ihr die Soldaten der Roten Armee zugerufen, ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Cycowicz dachte: „Wir? Die Allerletzten unserer Familien? Ohne Eltern, ohne Kinder, Schwestern und Brüder, ohne Heimat, ohne Namen – wohin sollten wir gehen?“

Diese Rede zum 8. Mai muss in dieser Linie gesehen werden: „Die Erinnerung fordert und verpflichtet uns“, betont Steinmeier. „Dieses ,Nie wieder!‘, es bedeutet für uns Deutsche vor allem: Nie wieder allein!“ Dieser Satz gelte nirgendwo so sehr wie in Europa. „Wir müssen Europa zusammenhalten“, betont er. Denn: „Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ,Nie wieder‘.“ Und er überträgt die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag in die heutige Zeit. Von Weizsäcker war der erste deutsche Bundespräsident, der die Kapitulation des Deutschen Reichs einen „Tag der Befreiung“ nannte. Steinmeier betont nun: „Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen.“ Befreiung sei nämlich niemals abgeschlossen, und sie fordere uns alle aktiv: „Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien“, betont Steinmeier. „Von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand.“ Wie in Yad Vashem, wie in seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag mahnt der Bundespräsident, die jüngsten Ereignisse nicht zu vergessen: „Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen.“

Gegen einen Schlussstrich

Die deutsche Geschichte sei eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid, betont Steinmeier. „Das bricht uns das Herz, bis heute.“ Deshalb gelte: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“ Wer einen Schlussstrich fordere, der verdränge nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. „Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet den Wesenskern unserer Demokratie.“ Und er verweist auf den ersten Satz des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Darin sei und bleibe für alle sichtbar eingeschrieben, was in Auschwitz, was in Krieg und Diktatur geschehen sei. „Nein, nicht das Erinnern ist eine Last – das Nichterinnern wird zur Last. Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande – das Leugnen ist eine Schande.“

Gerade in den Zeiten von Corona, in Debatten über den Schutz des Lebens wird der erste Artikel des Grundgesetzes oft zitiert. Auch vor dem Hintergrund des Holocaust tut sich Deutschland zu Recht schwerer als andere Staaten mit kühlen Kosten-Nutzen-Rechnungen, wenn es um Abwägungen über Leben und Tod geht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false