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Der kommissarische Leiter der ADS, Bernhard Franke, mit einem Schaubild zum Jahresbericht seiner Antidiskriminierungsstelle

© Rainer Zensen/imago

Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle: "Rassismus spaltet die Gesellschaft, nicht die, die ihn ansprechen"

Fast doppelt so viele Fälle wie 2019 - die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hatte im Coronajahr noch mehr zu tun. Ihr scheidender Leiter mahnt.

Um 78 Prozent sind die Anfragen und Meldungen gestiegen, die in der Gleichstellungsbehörde des Bundes, der "Antidiskriminierungsstelle" (ADS) im letzten Jahr aufliefen. Statt der 3.580 im Vorjahr waren es diesmal 6.383 Fälle, deretwegen sich Menschen an die ADS wandten. "Selbst ohne den Sondereffekt der Pandemie hätten wir 2020 den stärksten Anstieg erlebt", resümierte der Leiter der ADS, Bernhard Franke, am Dienstag, als er seinen Jahresbericht für 2020 vorstellte. Klar sei aber auch, dass Corona "einen deutlichen Anteil daran" hatte. 1.904 der Anfragen standen in Zusammenhang mit der Pandemie.

Franke nannte Beispiele: Vor allem von Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten seien viele Anfragen gekommen. Die Betroffenen, so der Bericht, seien in der politischen Kommunikation nicht genügend berücksichtigt worden oder ohne Unterstützung geblieben, weil Gebärdendolmetscherinnen oder Helfer sie wegen der Hygieneauflagen nicht begleiten durften. Insgesamt stiegen die Anfragen zum Merkmal "Behinderung", auch unabhängig von Corona, auf 2631 Fälle. Sie verdreifachten sich damit.

Ältere Menschen seien im Pandemiejahr durch die Verlagerung auf digitale Angebote ausgegrenzt worden, Trans- und Intersexpersonen, Schwule und Lesben hätten verloren, weil wichtige Beratungs- und Begegnungsstätten schlossen oder OPs und Hormontherapien hinter der Corona-Versorgung zurückstehen mussten. Und "Frauen wurden in alte Rollenmuster zurückgeworfen", vor allem im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung, die sie schulterten, weil Kitas und Schulen geschlossen waren. Zudem habe Antisemitismus in Corona-Verschwörungsmythen "wieder Auftrieb erhalten", sagte Franke.

Besonders stark, so der Bericht, hatten Menschen mit asiatischen Wurzeln und Sinti und Roma in der Pandemie zu leiden: Ihre Erfahrungen reichten "von als schikanierend empfundenen Kontrollen seitens der Polizei und der Ordnungsämter über erschwerte Zugänge zu (medizinischen) Dienstleistungen bis hin zu Jobverlusten und offenen Anfeindungen". Der Jahresbericht enthält den Fall eines Paketboten, der sich weigerte, an eine deutsch-asiastische Frau auszuliefern, den einer anderen Frau, die über Whatsapp von einem Kollegen als Virusüberträgerin gemobbt wurde.

Die Gesellschaft wird aufmerksamer für Rassismus - aber auch das Klima rauer

Rassismus war damit im letzten Jahr als Grund für Anrufe oder Mails an die ADS ebenfalls auf einem neuen Höchststand. Jede dritte Anfrage bezog sich darauf, der wichtigste Posten nach dem Merkmal "Behinderung". Es folgten Diskriminierung wegen des Geschlechts, dann wegen des Alters, danach der Religion, der sexuellen Identität und der Weltanschauung.

Der Höchststand an Beratungsanfragen im vergangenen Jahr, so Franke, zeige aber auch, dass die Gesellschaft sensibler geworden sei: "Es gibt einen wacheren Blick für Ungleichbehandlung. Menschen suchen immer häufiger Beratung und sind nicht mehr bereit, das hinzunehmen." Auch die Ereignisse des letzten Jahres jenseits der Pandemie hätten dazu vermutlich beigetragen, die "Black-Lives-Matter"-Proteste nach dem Tod des Schwarzen US-Bürgers George Floyd im Mai und die Einrichtung des Kabinettsausschusses gegen Rechtsradikalismus und Rassismus durch die Bundesregierung. Das habe das Verständnis und die Debatten über Diskriminierung verbreitert. Zugleich habe "eine gewisse Verrohung im öffentlichen Sprechen" auch tatsächlich zu mehr Diskriminierung geführt.

Für die ADS hatte dies zunächst einmal die Folge, dass sie ihre telefonische Beratung nicht mehr anbieten konnte und nur noch schriftlich antwortete und beriet - auch, so Franke, damit die Betroffenen die "extrem kurzen Fristen" einhalten konnten, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vorschreibt. Erst im letzten Jahr wurde beschlossen, die Frist für die Anzeige von Diskriminierung von zwei Monaten auf ein halbes Jahr auszuweiten.

Die ADS, die vor 15 Jahren nach europäischen Vorgaben eingerichtet wurde, ist eine vergleichsweise klein und im europäischen Vergleich weder finanziell üppig ausgestattet noch, was ihre Rechte angeht. Franke dankte dem Ministerium Giffey, an das die Stelle, obwohl unabhängig, angebunden ist. Weil dort Geld ausgegeben wurde, hoffen er und sein Stab, ab Juli wieder Telefonberatung anbieten zu können. Dadurch, dass sie aktuell nicht arbeitet, sei die Schwelle zur Beratung für viele Menschen höher geworden.

Nationale Gleichstellungsstelle "stiefmütterlich behandelt"

Sonst richtete der scheidende Behördenleiter, der die ADS seit drei Jahren kommissarisch leitet und demnächst in Pension gehen wird, vor allem kritische Bemerkungen an die Adresse der Politik: Er hoffe, dass die Behörde in der nächsten Legislaturperiode und von einer neuen Regierung weniger "stiefmütterlich" behandelt werde. Es sei "sehr bedauerlich, dass es in dieser Legislaturpersiode nicht geschafft wurde, eine neue Leitung der ADS zu berufen". Die reguläre Leiterin Christine Lüders war 2018 in den Ruhestand gegangen. "Mehrjährige Vakanzen" auf diesem Posten dürften sich nicht wiederholen, schreibt Franke im Vorwort zum Jahresbericht. "Dafür ist, das hat uns nicht erst das Jahr 2020 gezeigt, der Schutz vor Diskriminierung eine zu wichtige Aufgabe."

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Für den seiner Behörde zudem oft die Mittel fehlen. Gerade die Arbeit der Polizei, von öffentlichem Dienst und staatlichen Bildungseinrichtungen, über die nicht erst im letzten Jahr stark diskutiert wurde, fällt nicht in die Zuständigkeit des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Auch um Hass im Netz oder auf der Straße kann sie sich nicht kümmern. Die ADS darf nur bei Verstößen in der Privatwirtschaft, auf dem Wohnungsmarkt, bei "Geschäften des täglichen Lebens", also etwa beim Einkaufen tätig werden. In ihr Feld fallen zudem nur bestimmte Merkmale, nämlich Diskriminierung aufgrund des Alters, der Behinderung, der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen Gründen, wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung und der sexuellen Identität.

Für unabhängige Polizeibeauftragte

Franke wiederholte eine alte Forderung der Antidiskriminierungsstelle: Bund und Länder sollten unabhängige Polizeibeauftragte berufen "und ihnen umfassende Befugnisse einräumen". Mehr als ein Drittel der Anfragen, 37 Prozent, erhält die ADS nach eigenen Angaben zu Diskrimimierungen, für die sie laut Gesetz nicht zuständig ist.

Franke äußerte sich auf seiner vermutlich letzten Jahrespressekonferenz auch zur laufenden hitzigen Rassismus-Debatte. Bis in Leitartikel und politische Diskussionen habe es geheißen: "Wer über Diskriminierung oder Rassismus spricht, der spalte". Es sei von lauten Minderheiten die Rede gewesen. Tatsächlich aber "gespalten wäre eine Gesellschaft, die über Diskriminierung lieber nicht spricht und sie unter den Teppich kehrt, die Minderheiten zum Schweigen bringt. Es ist Rassismus, der unsere Gesellschaft spaltet und nicht, dass Menschen ihn offen zur Sprache bringen", sagte Franke. Wer auch noch die Erfahrung mache, das Rassismus folgenlos bleibe, bei dem bröckle das Vertrauen zu Demokratie und Rechtsstaat. "Menschen, die keinem oder geringem Diskriminierungsrisiko ausgesetzt sind, mögen auch ohne Schutz auskommen." Für die, die Diskriminierung treffe, sei der Schutz davor lebenswichtig.

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