zum Hauptinhalt
Bis 2016 flüchteten jährlich Tausende über die Balkanroute. Jetzt sind es weniger.

© Balazs Mohai, dpa

Jährlich Zehntausende auf Landweg nach Westeuropa: Sterben auf der Balkanroute

Der Fluchtweg über Serbien ist seit 2016 offiziell geschlossen. Doch die Wirklichkeit 2020 sieht ganz anders aus.

Zwei frisch aufgehäufte Erdhügel sind geblieben vom Traum eines Lebens in Sicherheit und Frieden. Tannenzweige, etwas Schnee und hölzerne Namenstafeln zieren die beiden Gräber am Rande des Friedhofs im serbischen Sid. Hier liegen die 27-jährige Irakerin Fatima Haj Assaad und die 45-jährige Syrerin Iman Alkazawi begraben.

Polizeitaucher hatten am 23. Dezember nur noch die Leichen der beiden Mütter aus der Donau unweit von Karavukovo bergen können. Die Leichen ihrer ertrunkenen Männer und Kinder sind noch immer nicht gefunden. Bei dem Versuch, in der Morgendämmerung den im Winter reißenden Strom in einem Boot in Richtung Kroatien zu überqueren, verloren sechs Flüchtlinge ihr Leben.

Er habe in der Woche des Unglücks dienstfrei gehabt, sagt Vladimir Sulavic seufzend, der Koordinator des Auffangzentrums in Sid. Mit 210 Bewohnern sei das für Familien vorgesehene Lager relativ klein, sagt der hochgewachsene Serbe: „Hier kennt jeder jeden. Das Schicksal der beiden Familien hat alle hart getroffen.“

Vermutlich hätten die Familien das für vier Personen zugelassene Boot auf eigene Faust gekauft, um die Überfahrt zu wagen, sagt Sulavic. Als das Boot kenterte, hätten die Insassen kaum eine Chance gehabt: „Selbst für erfahrene Schwimmer wäre das Überleben im kalten Wasser und bei der starken Strömung schwierig.“

Im Winter ist das Passieren der Grenze schwieriger

Ob bei Fluss- oder Zugpassagen: Laut Angaben von Serbiens Flüchtlingskommissariat haben 2019 mindestens 20 Migranten ihr Leben verloren. Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsuchende in Belgrad, hält die Dunkelziffer für wesentlich höher: „Es kommen sicher mehr Menschen um, als offiziell bekannt ist. Denn die Überlebenden melden sich nie bei der Polizei.“

Offiziell wurde die sogenannte Balkanroute im März 2016 geschlossen. Doch noch immer versuchen jährlich Zehntausende auf dem Landweg über eine der vielen Grenzen des Balkans nach Westeuropa zu gelangen. Für ihr Ziel gehen sie im Winter erhöhte Risiken ein – und setzen auch ihr Leben aufs Spiel.

Trotz des Winters steige die Zahl der Flüchtlinge wieder, berichtet Djurovic. Die Zahl der Neuankömmlinge in Serbien betrage derzeit rund 180 Menschen am Tag, inzwischen sei wieder jeder Vierte von ihnen ein Syrer. Auf über 6000 beziffert er die wachsende Zahl der in Serbien festhängenden Transitmigranten, die über Bosnien, Kroatien oder Ungarn nach Westen zu gelangen hoffen: „Sie versuchen ständig, über die Grenze zu kommen – und werden ständig wieder abgedrängt.“

Allein an Serbiens Grenzen zu Kroatien und Ungarn würden derzeit täglich zu 200 bis 270 Menschen zurückgeführt, berichtet Djurovic. Gleichzeitig bestätigt er bosnische Presseberichten, wonach in den letzten Wochen vermehrt Flüchtlinge von Bosnien wieder nach Serbien zu gelangen suchten, um dort zu überwintern: „Wir sehen, dass einige Leute nach Serbien zurückkehren, weil die Zustände in Bosnien noch schlechter sind als hier.“

Die Verzweiflung treibt die Menschen weiter

Im Aufnahmelager Adavci, einem früheren Autobahnmotel unweit von Sid, pumpen Gebläse Warmluft zwischen die langen Reihen der Stockbetten. Wegen des verstärkten Andrangs sind mittlerweile zwei Drittel der 900 Insassen in vier Großraumzelten untergebracht. Im Winter sei die Fluktuation unter seinen vor allem aus Afghanistan stammenden Schützlingen deutlich geringer als im Sommer, berichtet Schichtleiter Djordje Dragovic. Zwar sei es im Winter viel schwieriger, die grüne Grenze zu passieren, doch täglich würden beim Frühstück 30 bis 40 Leute fehlen.

„Die Verzweiflung treibt den Menschen zu vielen Dingen“, erklärt Nikola Popov von Serbiens Flüchtlingskommissariat das Phänomen, dass die Grenzgänger selbst im Winter die riskante Passage in Richtung Westen suchten. Viele hätten sich für ihre Reise so stark verschuldet, dass sie so schnell wie möglich an ihr Ziel gelangen wollten.

Jede Verlängerung ihres Aufenthalts koste die Flüchtlinge Geld, sagt Djurovic: „Sie wollen so rasch wie möglich weiter, solange sie dafür noch die Kraft und die Mittel haben.“ In den Zuständen in Serbiens überfüllten Aufnahmelagern sieht er einen weiteren Grund für die Risiken, die die Geflüchteten auf sich nehmen: „Niemand will in solchen Lagern länger bleiben.“

Sechs muslimische Gräber

Erst vor wenigen Tagen sei im 100 Meter entfernten Bahnhof ein Palästinenser, der auf einen Güterzug geklettert war, um nach einem möglichen Versteck für seine Familie zu suchen, an einem Stromschlag gestorben, erzählt Sulovic und schüttelt mit dem Kopf: „Es war einfach furchtbar.“ Er und seine Kollegen würden ihre Schützlinge ständig auf die Gefahren der Zug- und Flusspassagen hinweisen: „Aber sie sagen nur: Was sollen wir denn sonst tun?“

Ein kalter Wind streicht über die Gräber von Fatima und Iman. Sechs muslimische Flüchtlingsgräber zählt mittlerweile der serbisch-orthodoxe Neue Friedhof in Sid. Es könnten in diesem Winter noch mehr werden.

Das wichtigste Ziel eines jeden Menschen sei ein Leben in Freiheit und Sicherheit, sinniert im Aufnahmelager von Sid der iranische Familienvater Aidin. Er sei kein Wirtschaftsflüchtling, versichert der bärtige Architekt. Er habe seine Heimat wegen der religiösen Verfolgung der Bahai-Minderheit verlassen.

Über ein Jahr hänge er mit seiner Familie schon in Serbien fest. Doch das Leben seines Kindes und seiner Frau würde er für die erhoffte Übersiedlung nach Westeuropa niemals riskieren: „Der Mensch ist für die Stadt gemacht, nicht für die Wälder – oder einen gefährlichen Fluss.“

Zur Startseite