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Strände und Friseursalons geschlossen, aber sie dürfen wieder ran: Arbeiter im Ferrari-Werk in Maranello.

© Ferrari via Reuters

Italiens Phase zwei beginnt: "Wir haben die Epidemie nicht überwunden"

Italien hat das öffentliche Leben vorsichtig wieder angefahren. Und ist über die eigene Disziplin erstaunt. Die Angst vor dem Virus ist noch groß.

Der befürchtete Ansturm blieb aus: Gerade einmal ein Zehntel derer, die an diesem Montag wieder zur Arbeit gingen, haben sich in öffentliche Verkehrsmittel gewagt, auf den großen Zugstrecken zwischen Italiens Norden und Süden waren bis zum Nachmittag höchstens 160 Menschen mehr unterwegs als während des Lockdowns der letzten zwei Monate. Zwischen Rom und Bozen zählte das Verkehrsministerium in Rom sogar gerade einmal 13 Fahrgäste mehr.

„Chapeau für soviel  Selbstdisziplin“, kommentierte erleichtert Italiens Verkehrsministerin Paola De Micheli, die selbst am Morgen  zum römischen Bahnhof Termini gekommen war, um sich einen Überblick über den ersten Tag der „Phase 2“ zu verschaffen. Auch mit ihrer Rückfahrt im Bus zum Ministerium war die Ministerin zufrieden: Alle hielten Abstand und versuchten gar nicht erst, sich noch durch die Türen zu quetschen, wenn die stark reduzierten Sitzplätze besetzt waren.

Besuch bei Verwandten ja, nicht bei der Freundin

Nicht nur die Ministerin war angenehm überrascht. „Neuanfang ohne Chaos“ titelte der „Corriere della sera“ am Dienstag mit leisem Staunen. Seit Wochenbeginn sind die Italienerinnen und Italiener nicht mehr in den eignen vier Wänden eingeschlossen, sie dürfen nicht mehr nur einkaufen, sondern auch spazierengehen, Kinder können durch die wieder geöffneten Parks toben, nicht mehr nur Arztbesuche sind nun erlaubt, sondern auch eine Visite bei der Verwandtschaft. Wobei es über den Konservatismus dieser Bestimmung einigen Ärger gab, denn Wahlverwandte, also Freundinnen und Freunde, sind weiter tabu.

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Doch Italien ist am Montag nicht auf die Straßen zurück- und in die Bars gestürmt, die, anders als Restaurants, wieder öffnen, aber den caffè nur im Pappbecher nach draußen reichen dürfen.  Obwohl fast viereinhalb Millionen Menschen mehr nun wieder zur Arbeit dürfen, bleibt es vorerst ruhig. Auch der Autoverkehr schwoll zwar etwas an, blieb aber – kein Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten - praktisch staufrei.

Der Grund steckt vermutlich hinter jenem Wort, das „La repubblica“ am Tag danach in großen Buchstaben auf ihre erste Seite hob: „Paura“, Angst. Das Land hat die Botschaft von zwei Monaten Isolation offenbar verinnerlicht. „Wir gehen ein Risiko ein“, warnte im „Corriere della sera“ Giovanni Rezza, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten in Italiens Gesundheitsbehörde "Istituto Superiore di Sanità" (ISS).

Der Fachmann rät dazu, die „fase due“ als Experimentierphase zu sehen. Das langsame Wiederanfahren des öffentlichen Lebens werde, wenn gut kontrolliert, die Schwachstellen für Ansteckungen sichtbar machen. „Wir haben die Epidemie ganz und gar nicht überwunden. Wir sind noch mittendrin.“

In Bergamo sechsmal mehr Tote

Das haben gerade die jüngsten Zahlen des nationalen Statistikamts Istat bekräftigt. Die Behörde hatte bereits Anfang April schockierende Zahlen zum großen Sterben durch Covid herausgegeben – allerdings aufgrund der Rückmeldungen aus nur einem Achtel der italienischen Kommunen. Nun ist die Zahl genauer geworden, die Statistikerinnen konnten fast 90 Prozent der Kommunen und der Bevölkerung  erfassen, zudem für einen längeren Zeitraum: Demnach lag die Sterbeziffer Italiens insgesamt zwischen dem 21. Februar und dem 31. März um 49 Prozent höher als im Schnitt der vergangenen fünf Jahre.

Wozu allerdings der Norden mit weit fürchterlicheren Zahlen beitrug: In Mailand verdoppelte sich die Zahl der Toten fast (plus 92,6 Prozent), in Parma lag sie dreimal (208,4), in Cremona fünfmal (391,8) höher. Der schreckliche Spitzenplatz von Bergamo bestätigte sich und ist noch weiter von den anderen abgerückt. Dort starben zwischen der letzten Februarwoche und Ende März sechseinhalbmal mehr Menschen als im Schnitt der letzten fünf Jahre um die gleichen Zeit, eine Steigerung um 567,6 Prozent. Im kürzeren Zeitraum, der Anfang April veröffentlicht wurde, kam das Istat auf knapp viermal mehr Tote in Bergamo.

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Der Süden des Landes, auch dies hat sich bestätigt, blieb weitgehend verschont; die Totenziffer ging dort im Schnitt um nicht einmal zwei Prozent nach oben. Oder sank sogar im Vergleich mit dem Mittelwert der letzten fünf Jahre: in Neapel leicht, in Rom sogar um mehr als neun Prozent.

Badebetriebe drängen auf Öffnung

Entsprechend streng ging man jetzt mit Heimkehrern aus dem Norden um: In Neapel warteten Bedienstete der Gesundheitsämter am Montag schon mit Schnelltestbesteck am Bahnsteig, auch an der Autobahn-Ausfahrt Neapel-Nord wurde getestet.

Im Süden dürfte auch bald die Ungeduld mit dem vorsichtigen Öffnungskurs steigen; die Folgen für die oft prekäre Wirtschaft im Mezzogiorno sind noch härter als im Norden, der ohnehin im begründeten Verdacht steht, nie wirklich in den Lockdown gegangen zu sein. Mitte April inspizierte das Innenministerium dort 65.000 Firmen, die ohne Erlaubnis weiterproduzierten.

Dennoch gab es selbst weiter nördlich am Montag Proteste: An der toskanischen Versilia-Küste öffneten 350 Strandbetriebe trotz Verbots eine Stunde lang, in Voghera in der Provinz Pavia versammelten sich wie anderswo im Land ein paar Dutzend Friseure und Kosmetikerinnen zu einem Flashmob. Ein Teil der Versilia erstreckt sich über Massa-Carrara, wie Pavia unter den 30 am stärksten Covid-geplagten Provinzen.  Für Schönheitssalons und das Friseurhandwerk soll es erst am 1. Juni wieder losgehen, für Betriebe in weniger betroffenen Gebieten womöglich zwei Wochen früher. 

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