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Zukunft ungewiss - Italiens Premier Giuseppe Conte führt erneut eine wacklige Koalition.

© Toby Melville/Reuters

Italien nach und vor Salvini: Römische Zahlen

Die erste Regionalwahl in Italien nach der Regierungsneubildung ging an Matteo Salvini. Der täglich hämmernde Rassismus des Oppositionsführers wirkt weiter.

Ein Arbeitstag am Strand beginnt vor sieben Uhr, wenn Leonardo mit seinen Kollegen den Sand harkt und Plastikmüll und Möwenfedern heraussiebt, bevor die Gäste es sich bequem machen. Er endet, wenn die letzten bei einem Drink den Sonnenuntergang abwarten. Dazwischen repariert Leonardo Liegestühle, pfeift Boote zurück, die sich den Badenden zu sehr nähern, versorgt Kindern die Muschelschnittwunden. Sein Lohn: „Rund 800 Euro im Monat“, sagt er. Ein Arbeitsplatz wie so viele in Italien, der nicht zum Leben reicht. Wenigstens ist er Leonardo Jahr für Jahr sicher: „Stessa spiaggia, stesso mare“, immer „derselbe Strand, dasselbe Meer“, wie ein geflügeltes Wort sagt – das gilt für ihn wie für seine Kundschaft.

Anzio, eine kleine italienische Küstenstadt. Der Endvierziger arbeitet hier seit zwei Jahrzehnten als Bademeister. Auf den Klippen stehen Belle-Epoque-Villen mit Meerblick aus der Zeit, als bessergestellte Sommerfrischler aus der Hitze der Hauptstadt hierhin flohen. Mit dem Bummelzug ist es eine gute Stunde von Rom.

Ausgerechnet an einem Strand begann in diesem Sommer die jüngste der vielen italienischen Regierungskrisen, „die verrückteste Krise der Welt“, wie sie eine verblüffte Presse rasch taufte. In einem Etablissement namens „Papeete Beach“ an der Adria forderte der Chef der rechten und an der Regierung beteiligten Partei Lega, Matteo Salvini, für sich „umfassende Vollmachten“ und Neuwahlen. Dass Salvini seine Umfragehochs irgendwann nutzen würde, um mehr als Innenminister zu werden, damit rechneten alle. Nicht aber damit, dass er das im August versuchen würde. Ferragosto, die Zeit um Mariä Himmelfahrt, den 15. August, ist Italien heilig.

Die Rechte rutscht nur kurz nach unten

Alles ruht. Zum ersten Mal seit 1946, als Italien eine Republik wurde, brach Salvini diese Ruhe. Und die Regierung gleich mit. Er erklärte, nach einer kurz zuvor gescheiterten Abstimmung – es ging um die Schnellbahnstrecke Turin-Lyon – gebe es ja keine Regierungsmehrheit mehr. Die größere Koalitionspartnerin, die Fünf-Sterne-Bewegung, und nicht zuletzt Staatspräsident Sergio Mattarella reagierten rasch. Sie zimmerten eine Mehrheit, die Salvini sich nicht hatte vorstellen können: Seit dem 5. September regiert nun der bisherige Premier Giuseppe Conte mit einer Koalition von Sternen und dem mitte-linken Partito Democratico, PD, der sich inzwischen gespalten hat. Salvinis Lega ist in die Opposition verbannt – doch ihre Rückkehr hat nun begonnen.

Zwar rutschte die Partei, die in den Umfragen zeitweise bei 60 Prozent stand, mit dem Ausscheiden aus der Regierung massiv ab. Im Oktober war sie mit mehr als 30 Prozent aber immer noch stärkste Partei – mit mindestens zehn Prozentpunkten Abstand zu PD und Sternen. Im einst roten Umbrien wurde am Sonntag nun eine Lega-Kandidatin zur Regionalpräsidentin gewählt. Mit 57,5 Prozent, 20 Prozentpunkten Abstand zum ersten gemeinsamen Kandidaten von PD und Sternen. Gleich die erste Regionalwahl hat Salvini damit – wie angekündigt – gewonnen. Nach dem Regierungswechsel schien Italien zunächst etwas Atem zu schöpfen. Premier Conte, der 18 Monate lang blass erschien, konnte sich in einer Umfrage in der Woche der Regierungsbildung über die Zustimmung von 53 Prozent seiner Landsleute freuen. Das hat fünf Jahre lang keiner in diesem Amt geschafft. Die Sterne, die den parteilosen Juraprofessor nominierten, und der PD bewegen sich endlich aufeinander zu. Um Salvini in Schach zu halten, sind sie sogar zu Bündnissen für die anstehenden Regionalwahlen bereit.

"Die Italiener zuerst", der Slogan verfing

Doch nicht nur die Wahlergebnisse in Umbrien zeigen: Salvini bleibt ein gefährlicher Gegner. Vor wenigen Wochen brachte er in Rom Zehntausende zu einer Kundgebung zusammen, bei der die parlamentarische Rechte, alt und neu, vollständig versammelt war. An seiner Seite Giorgia Meloni, Chefin – als erste und bisher einzige Frau in Italien – der nationalistischen Partei Fratelli d’Italia, und der inzwischen 83-jährige Mehrfachpremier Silvio Berlusconi. Der wiederholte sein lebenslanges Mantra, man müsse zusammenstehen, „um alle Bürger von der Unterdrückung durch Finanzämter, Justiz und Bürokratie zu befreien“. Die Versammlung auf der zentralen Piazza San Giovanni in Laterano – traditionell Kundgebungsort der Linken – sende eine „Räumungsverfügung“ Richtung Regierungssitz Palazzo Chigi. Salvini stellte das Ende der neuen Koalition für die ersten Monate des neuen Jahres in Aussicht: „Erst gewinnen wir die Regionalwahlen, dann schicken wir sie nach Hause. In den Palazzo Chigi werden wir rasch zurückkehren, und zwar durch den Haupteingang.“
Mehr als ein Jahr lang konnte Matteo Salvini als Innenminister seine Landsleute Tag für Tag glauben machen, ihr größtes Problem sei die Migration übers Mittelmeer. Sein vor allem über Twitter unendlich wiederholter Slogan „Die Italiener zuerst“ verfing. Lautstarkes Schimpfen über „die von draußen“, denen alles gegeben werde, während man selbst nicht wisse, wie man bis Monatsende durchkomme, ist in Italien inzwischen auf jeder Straße zu hören.
Viele beobachten mit Sorge, wie mit Salvini ein kaum modernisierter Faschismus salonfähig wird. Bei der Kundgebung vor der Lateranbasilika in Rom empfahl der Regionalpräsident des Veneto, ein Parteikollege, vom Podium herunter, die Polizei solle endlich „die Benimmbücher einpacken und dafür den Schlagstock wieder zur Hand nehmen“. Nur einen Schritt vom Mikrofon waren die erklärten Faschisten der Casa Pound aufmarschiert. Keiner der drei Veranstalter sei dagegen gewesen, hieß es auf Mediennachfragen. Nur den ohnehin per Gesetz verbotenen „saluto romano“, das Gegenstück zum Hitlergruß, habe man ihnen untersagt.

Salvinis Verbündete und er können ernten, was Berlusconi etwa 20 Jahre lang gesät hat: Wie er schimpft auch Salvini auf den Staat, der brave Familienväter und Gemüsehändler angeblich in den Ruin besteuert. Und: auf eine Justiz, die Steuerhinterziehung verfolgt.

Eine Professur gibt's mit Beziehungen oder Glück

Wie Berlusconi hat auch die neue Generation der Rechten – von Mitte-rechts spricht selbst Salvini längst nicht mehr – ihre Gründe dafür. Reisen mit Dienstfahrzeugen sind bekannt geworden, Salvinis Verbindung zu russischem Geld ist ebenso unaufgeklärt wie der Verbleib von 49 Millionen Euro staatlicher Wahlkampfkostenerstattung, die die Lega noch unter ihrem Gründervater Umberto Bossi rechtswidrig kassierte.
Berlusconis altes Lied hat Salvini durch eine Schlussstrophe ergänzt: Alles Elend komme in Wahrheit von den „Fremden“. Auch die wirklich großen Steuerhinterzieher, sekundierte seine Verbündete Meloni passend in Rom, seien in Wirklichkeit doch „die Chinesen, die Internetriesen und die Migranten“.
Der täglich hämmernde Rassismus der aktuell populärsten Partei ist Gift für das heutige Italien. Das ist längst kein weißes Land mehr. Selbst am Strand von Anzio kommen nicht mehr nur die Schmuckverkäufer aus Nord- und Westafrika, Dunkelhäutige und ihre Familien gehören zur zahlenden Kundschaft. Die Regierung plant inzwischen, Migranten der zweiten Generation einbürgern, wenn sie die Schule oder einen Berufsabschluss im Land geschafft haben.

Über den Erfolg der Regierung Conte 2 wird aber entscheiden, ob sie Arbeitslosigkeit und Unterbezahlung in den Griff bekommt. Nicht nur Bademeister wie Leonardo haben Existenzängste. Francesca Comunello, Professorin für Kommunikationssoziologie an Roms ehrwürdiger Sapienza-Universität, berichtet am Telefon über die verzweifelte Lage ihrer Kolleginnen und Kollegen: „Es gibt wirklich gute Wissenschaftlerinnen und Forscher, die älter als 40 sind und immer noch prekär beschäftigt.“ Die auf der Straße stehen, wenn ihre Kurzzeitverträge enden, vom Gehalt des Ehepartners oder der Eltern lebten. Sie selbst, die über eine lange Publikationsliste verfügt, sagt, sie habe „einfach Glück gehabt“. Gute wissenschaftliche Arbeit machen, klar, das sei eins. Aber alles andere als eine hinreichende Voraussetzung für den Erfolg. An den Universitäten Italiens kommen regelmäßig Berufungsskandale ans Licht. Da wird der Freund von X oder die Tochter von Y an allen geeigneteren Kandidaten vorbei auf einen lukrativen Lehrstuhl geschoben. Junge Doktoren und Forscherinnen erzählen sich beim Wein, wer gerade wieder an jemand Qualifizierterem vorbeigezogen ist. Öffentlich reden sie selten, zu groß ist die Angst, vom Warte- aufs Abstellgleis zu geraten.

Die Opposition mitten in der Regierung

Viele von ihnen gehen. Die Flucht der Köpfe, wie in Italien die Wissensabwanderung genannt wird, hält an. Nach den letzten Zahlen der nationalen Statistik-Behörde Istat verließen 2017 rund 115 000 Italienerinnen und Italiener ihr Land; davon hatten mehr als die Hälfte eine Berufsausbildung oder ein Universitätsdiplom. Im Gegenzug zieh
t Italien nicht in genügender Anzahl ausländische Experten an. Die letzte Regierung lockte mit massiven Steuervorteilen für Rückkehrwillige – vergeblich.
Unter einem Salvini-Mann scheiterte der bisherige Vize-Bildungsminister Lorenzo Fioramonti mit seinen Vorstößen, die Vetternwirtschaft zu durchleuchten. Nun ist der Sterne-Politiker, ein Politikwissenschaftler mit internationaler Karriere, selbst Chef im Bildungsministerium. Die Vernunft gebiete den Erfolg des neuen Bündnisses, erklärt er – einen, den die Bürgerinnen und Bürger auch spürten. „Aber ich gebe zu: Es ist vernünftig, in der Politik immer mit Unvernunft zu rechnen.“
Die Unvernunft ist ziemlich schnell in die neue Regierung gesickert. Im Jahr zuvor war das rettende Bündnis mit dem PD, das die Sterne schon gleich nach der Wahl 2018 wollten, noch am harten Nein des damaligen PD-Parteichefs Matteo Renzi gescheitert. Nun war es Renzi, der den Eintritt der Seinen in die neue Regierung ebnete – nur um sich gleich von ihnen abzuspalten. Der einstige Chef hat eine eigene Partei gegründet, Italia viva, Lebendiges Italien, und zwingt damit die noch junge Regierung zu Verhandlungen unter drei statt zwei Partnerinnen.
Überdies versucht Renzi, die schmale Basis von Italia Viva mit Überläufern der Berlusconi-Partei aufzupolstern. Und blinkt auch sonst nach rechts. Für die Regierung unter Führung der Sterne, deren Wahlerfolg auf einem Bekenntnis gegen Korruption und Vetternwirtschaft gründete, eine echte Gefahr.

Ob die Regierung noch amtiert, wenn die Saison am Strand wieder beginnt? Das hängt davon ab, ob es ihr gelingt, einen Aufschwung zu schaffen. Bevor die Leonardos an Italiens Stränden von weniger Steuern träumen, brauchen sie erst einmal Gehälter, von denen sie Steuern zahlen können.

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