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AfD-Politiker Andreas Kalbitz, Alexander Gauland und Jörg Meuthen.

© Kay Nietfeld/dpa

Ist die AfD „bürgerlich“?: Wenn ein Schimpfwort zum Ehrbegriff wird

Der Streit darüber, ob sich die AfD als bürgerliche Partei bezeichnen darf, ist grotesk. Denn wer sich so bezeichnet, entlarvt sich als Spießer. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Mit den Worten „bürgerlich“, „Bürger“ und „Bürgertum“ verhält es sich so: Je näher man ihnen kommt, desto weiter entfernen sie sich. Vor hundert Jahren etwa gab es viele, die das Bürgertum verachteten.

Die Faschisten hetzten gegen bürgerlichen Individualismus, bürgerlichen Materialismus und bürgerlichen Rechtsstaat. Die Kommunisten wetterten gegen die reaktionäre Bourgeoisie. Vor fünfzig Jahren galt unter Studentenbewegten als ausgemacht, dass das Versagen des Bürgertums Hitler erst möglich gemacht habe und das Bürgertum selbst eine Brutstätte des Faschismus gewesen sei.

Kulturell war der Bürger ein Spießer, der seine Kinder dazu anhielt, ein Instrument zu lernen und Gedichte aufzusagen. Die bürgerlichen Tugenden – Leistung, Fleiß und Sparsamkeit – wurden verspottet.

Vor diesem Hintergrund wirkt die aktuelle Fehde darüber, wer sich „bürgerlich“ nennen darf, grotesk. Das Schimpfwort wird zum Ehrbegriff umgedeutet. Plötzlich will jeder ein „Bürger“ sein.

Oder anders: Plötzlich darf sich der politische Gegner mit jedem Attribut schmücken, nur nicht mit „bürgerlich“. Das aber tut die AfD, und der Rest der Republik steht Kopf, anstatt froh darüber zu sein, dass sich die Partei zumindest in diesem Punkt recht deutlich vom Faschismus distanziert.

In der Wahlnacht hatte die MDR-Moderatorin Wiebke Binder ein mögliches Bündnis von CDU und AfD als „bürgerlich“ bezeichnet. Daraufhin prasselte ein Proteststurm über sie herein. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil schimpfte, das ginge auf gar keinen Fall. Der MDR entschuldigte sich für die Wortwahl, nannte die Wahl des Begriffs einen Versprecher. Im Stress einer Livesendung könne es zu Missverständnissen kommen und könnten Unschärfen passieren.

Das Adjektiv 'bürgerlich' ist weder wohl definiert, noch ergibt es im Zusammenhang mit 'Partei' einen tieferen Sinn. Bürger sind wir alle (oder die meisten), sogar die selbsternannten 'Reichsbürger' können sich dem nicht entziehen.

schreibt NutzerIn Gophi

Geht es um die Werte?

Wer aber ist ein Bürger? Ist Sahra Wagenknecht eine Bürgerin? Ist die Linke eine bürgerliche Partei? Ist die SPD eine bürgerliche Partei? Der Gegensatz zwischen Proletarier und Bourgeois greift nicht mehr. Weder eine Gesellschaftsschicht noch eine Klassenzugehörigkeit verbinden sich mit dem Begriff. Man kann reich und revolutionär, arm und gleichzeitig staatstragend sein. Also geht es wohl um Werte. Aber welche?

Rechtspopulisten könnten nicht bürgerlich sein, heißt es, weil sie gegen das politische Establishment sind. Ein echter Bürger dagegen sei eine Stütze der Gesellschaft.

Nun hat Europa ja einige Erfahrung mit rechtspopulistischen Parteien, die an einer Regierung beteiligt sind oder waren – ob in Norwegen, Österreich, Finnland, Dänemark oder der Schweiz. Umsturzversuche hat es dort nie gegeben. Stattdessen mussten sich die ideologischen Hitzköpfe mit Fragen der Müllabfuhr, Straßenbewirtschaftungskonzepten und Rentenformeln befassen.

Darum: Schluss mit dem Streit um das Wort! Nur bürgerliche Spießer nennen sich selbst bürgerlich und neiden das Attribut allen anderen.

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