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Tel Aviv: Menschen genießen das warme Wetter an einem Strand ohne Abstand zu halten.

© Gil Cohen Magen/Xinhua/dpadpa

Israel steht vor zweiter Corona-Welle: Nach vorbildlichem Anfang droht ein Rückschlag

Der Staat Israel hatte von Anfang an erfolgreich das Infektionsgeschehen beherrscht. Doch viele Menschen kümmern sich nicht mehr um Masken und Abstand.

Spaziert man in diesen Tagen an der Tel Aviver Strandpromenade entlang, lässt sich leicht vergessen, dass das Land mit einem ansteckenden Virus ringt: Dicht an dicht strecken sich die Menschen auf ihren Handtüchern aus, drängeln sich vor den Eisständen oder sitzen in Strandbars zusammen.

Fast verschwunden sind die babyblauen Masken, die noch vor wenigen Wochen das Leben im öffentlichen Raum prägten; nur hier und da baumelt eine, lässig und wirkungslos, von einem gebräunten Kinn.

So wie am hier sieht es in vielen Teilen des Landes aus. In Bussen und Geschäften werden Masken noch mehr oder weniger regelkonform getragen, manche Läden stellen gar Personal ab, um am Eingang die Temperatur der Kunden zu messen.

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Ansonsten aber ist von den strengen Einschränkungen, die noch vor wenigen Wochen das öffentliche Leben zum Erliegen brachten, nichts mehr zu spüren. Manche Experten fürchten, dass das Land dafür einen hohen Preis zahlen könnte: Israel sei in die zweite Welle des Coronavirus eingetreten, meldete das Nationale Coronawissens- und Informationszentrum am Sonntag.

Hunderte Menschen könnten in den kommenden Wochen an Covid-19 sterben. Für Israel wäre das eine Eskalation: Seit Ausbruch der Pandemie hat das Virus in dem Neun-Millionen-Einwohner-Land nur knapp über 300 Todesopfer gefordert.

300 Neuinfektionen pro Tag

Sofern die Regierung nicht schnell neue Maßnahmen ergreife, könnte die Zahl der Neuinfektionen pro Tag auf Tausend steigen, warnte das Zentrum zudem. Derzeit hat Israel rund 300 erfasste Neuinfektionen pro Tag.

Anfang Mai war der Wert schon in den zweistelligen Bereich gerutscht, doch seitdem die Regierung die strengen Ausgangs- und Kontaktsperren auflöste, steigt er wieder. Noch zögert die Regierung vor neuen Einschränkungen, allzu hart traf der letzte Lockdown die Wirtschaft: Die Arbeitslosenrate etwa stieg von 3,9 Prozent im Februar auf zwischenzeitlich 27 Prozent im April.

Mahnt die Bürger: Regierungschef Benjamin Netanyahu.
Mahnt die Bürger: Regierungschef Benjamin Netanyahu.

© REUTERS

Doch die drastische Warnung des staatlichen Informationszentrums scheint die Regierung aufzurütteln. Am Sonntag kündigte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu an, für den kommenden Tag das „Coronakabinett“ einzuberufen, jene Minister, die am Kampf gegen das Virus beteiligt sind.

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„Wir müssen die Kurve abflachen“, sagte Netanjahu. „Wenn wir nicht sofort unser Verhalten hinsichtlich Masken und Abstandhalten ändern, werden wir – gegen unseren Willen – die Shutdowns zurückbringen.“

Bisher hatten internationale Beobachter Israel in der Virusbekämpfung ein gutes Zeugnis ausgestellt: Die Analyseagentur Deep Knowledge Group hatte im April verschiedene Länder nach ihren Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor dem Virus bewertet und Israel dabei mit dem ersten Platz ausgezeichnet.

Die Economist Intelligence Unit, die Forschungs- und Analyseagentur des britischen Magazin Economist, beschrieb Israel als eines der acht erfolgreichsten OECD-Länder im Kampf gegen die Pandemie.

Anfangs war Israel noch vorbildlich

Die Regierung beschloss früher als andere strenge Reisebeschränkungen und Ausgangssperren; zudem hat Israel eine jüngere Bevölkerung als etwa die USA und die EU-Staaten, weshalb viele Infektionen dort harmloser verliefen. Mit 3,43 Corona-bedingten Todesfällen auf 100.000 Einwohner liegt Israel weit hinter vielen westlichen Ländern wie Spanien (61), USA (37) und Deutschland (11).

Manche fürchten nun, die schnellen Lockerungen könnten die frühen Erfolge zunichte machen. Allerdings sehen nicht alle Experten das so. Ran Sa’ar beispielsweise, CEO der Krankenkasse Maccabi, argumentierte in einem Meinungsbeitrag für das Nachrichtenportal Wallah, noch gebe es keine „zweite Welle“, lediglich lokal begrenzte Ausbrüche.

Und die Tageszeitung „Israel Hayom“, die Netanjahu notorisch nahe steht, berichtete am Sonntag, auch der Premier selbst sehe noch keine zweite Welle. Um eine solche auch in Zukunft zu verhindern, wolle er nun erreichen, dass „Hundert Prozent“ aller Israelis eine Maske trügen.

Ein Blick auf die Tel Aviver Strandbars liegt nahe, dass das ein höchst ehrgeiziges Ziel ist.

Mareike Enghusen

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