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Umstritten: der türkische Staatspräsident Erdogan.

© REUTERS

Islamwissenschaftler Bassam Tibi: "Die Türkei ist für den Westen verloren"

Droht der Türkei ein Bürgerkrieg? Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi will das nicht ausschließen. Er warnt, dass die Regierungspartei AKP mit Terrororganisationen wie dem IS mehr gemeinsam habe, als vielen lieb ist.

Herr Tibi, die Bundesregierung wirft der Regierung der Türkei Zusammenarbeit mit Terrororganisationen wie der palästinensischen Hamas vor. Hat Sie dies überrascht?

Nein, im Gegenteil. Ich warne schon seit Jahren vor den islamischen Allianzen, die Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Region knüpft. Wir müssen uns in Deutschland endlich von der Vorstellung lösen, dass es sich bei der Regierungspartei AKP um eine islamisch-konservative Partei handelt. Wer das denkt, hat nichts verstanden – oder will es nicht so genau wissen. Die AKP ist eine sunnitisch-islamistische Partei und seit sie durch die Wahlen 2002 an die Macht gekommen ist, arbeitet sie eng mit islamistischen Bewegungen in der Region zusammen.

Zwischen Terrororganisationen wie Al Qaida und der türkischen Regierungspartei sehen Sie keinen Unterschied?

Wir müssen zwischen zwei verschiedenen Spielformen im Islamismus unterscheiden. Einmal gibt es den dschihadistischen, gewalttätigen Islamismus, den Gruppen wie Al Qaida, der „Islamische Staat“ oder Al Nusra propagieren. Andererseits gibt es Gruppen wie die Muslimbrüder in Ägypten oder eben die AKP in der Türkei, die auf einen Marsch durch die Institutionen drängen. Beide dieser islamistischen Spielformen haben aber ein gemeinsames Ziel: die Etablierung eines islamischen Staates, dessen Verfassung auf der Scharia, dem islamischen Recht beruht.

Der Westen hätte Erdogan mit mehr Vorsicht begegnen sollen?

Absolut, die AKP zeigt jetzt ihr wahres Gesicht. Den die Verfassung des Staates, die Erdogan vorschwebt, steht im entschiedenen Widerspruch zu unserer westlichen Vorstellung von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Für Islamisten wie Erdogan ist die Demokratie lediglich ein Werkzeug, das genutzt wird, um die eigentlichen Ziele zu erreichen. Schauen Sie auf die Hamas im Gazastreifen: Auch dort gab es 2005 demokratische Wahlen – es sollten die letzten bis heute bleiben. Vermutlich wird es auf lange Zeit nun auch in der Türkei keine Wahlen mehr geben.

Ist das nicht ein sehr fatalistisches Bild, das Sie zeichnen? Immerhin gibt es eine lange Tradition des Laizismus, der Trennung zwischen Staat und Religion?

Überhaupt nicht. Der Laizismus in der Türkei beruht auf der Staatsphilosophie, die Kemal Atatürk vor fast hundert Jahren im Land etablierte. Atatürks Kemalismus stand für die demokratische Modernisierung und Säkularisierung des Landes. Was wir aber gerade beobachten müssen, ist ein offener Schlagabtausch zwischen den Islamisten und den verbliebenen Kemalisten im Land. Und die Islamisten sind seit dem gescheiterten Putschversuch ein ganzes Stück vorangekommen: Die Idee des Kemalismus, dass es keine Sunniten, keine Aleviten und Kurden, sondern nur die türkische Nation gibt, ist zerbrochen.

Bassam Tibi (72) wurde in Damaskus geboren und gehört zu den profiliertesten Stimmen in der deutschen Islamdebatte.
Bassam Tibi (72) wurde in Damaskus geboren und gehört zu den profiliertesten Stimmen in der deutschen Islamdebatte.

© imago/Müller-Stauffenberg

Wird das Duell zwischen Islamisten und Kemalisten in der Türkei noch weitergehen?

Ja, davon gehe ich aus. Aber auch das kommt nicht überraschend. In der gesamten muslimischen Welt hat seit dem Arabischen Frühling ein Prozess des Staatsverfalls begonnen und vor diesem – das zeigt sich nun – ist leider auch die Türkei nicht immun. Mindestens 25 Prozent der Türken gehören der religiösen Minderheit der Aleviten an. Allerdings haben die Aleviten politisch und gesellschaftlich nichts zu sagen und werden diskriminiert, denn der Islam in der Türkei in seiner Mehrheit ist sunnitisch. Wenn aber ein so großer Bevölkerungsteil marginalisiert wird, kann ein Staatssystem dauerhaft nicht stabil bleiben.

Der Türkei droht also ein Bürgerkrieg?

Lassen Sie es mich vorsichtiger formulieren: Der Staatsverfall in der Türkei wird noch deutlich dramatischere Formen annehmen, als das bisher der Fall ist. Ob es letztendlich so katastrophal enden wird wie in Syrien, lässt sich seriös nicht voraussagen.

Was bedeutet das für Deutschland und Europa?

Wir sollten uns vor allem keinen Illusionen hingeben: Für den Westen ist die Türkei verloren. Weder ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union noch eine enge Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise ist mittelfristig realistisch oder auch nur wünschenswert. Die westlichen Staaten sollten einen pragmatischen Kurs in der Türkei-Politik fahren, sich wo nötig mit der Regierung Ankara absprechen und, wo nötig, zusammenarbeiten. Verlassen kann sich Europa auf die Türkei aber nicht.

Bassam Tibi (72) wurde in Damaskus geboren und gehört zu den profiliertesten Stimmen in der deutschen Islamdebatte. Der emeritierte Politikwissenschaftler lebt in Göttingen.

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