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Einige fordern, dass bei populistischen Protestbewegungen genauso differenziert werden muss wie beim Islam.

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Islam und Islamismus: Im Kampf um die Zivilisation

Keine Toleranz gegenüber den Feinden der Toleranz! Zwischen Islam und Islamismus gibt es Verbindungen. Wer das leugnet, bagatellisiert die dschihadistische Gefahr. Ein Essay.

Kein Mensch, der bei Verstand ist, behauptet, dass alle 1,6 Milliarden Muslime auf der Welt oder alle vier Millionen Muslime in Deutschland Extremisten sind – oder zum Extremismus veranlagt. Dennoch wird dieser Popanz immer wieder aufgebaut, um sich dann entrüstet gegen ihn zu verwahren. Die solchermaßen inszenierte gute Gesinnung ist aber kein Ersatz für Analyse. Die Leugnung von Zusammenhängen und der bedrohlich nahegerückten Präsenz des Feindes bedeutet einen Verzicht auf Strategie und Prävention. Es bleibt dem glücklichen Zufall oder der Aufmerksamkeit einer Verkäuferin im Baumarkt überlassen, ob uns ein Terroranschlag erspart bleibt.

Der biedermeierliche Wunsch, den fast schon weltweiten Kampf des Islamismus gegen die säkulare Zivilisation zu ignorieren und Politik ohne jede Unterscheidung von Freund, Interessenpartner, Gegner und Feind zu betreiben, will die Regenbogenwelt der eigenen Illusionen konservieren. Statt sich gegen den Islamismus zu wehren, wehrt sich das fast durchweg liberale Milieu von Politik und Medien gegen eine überdimensioniert wahrgenommene „rechte Gefahr“. Die Tragödie des unterlassenen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wird als Farce im Kampf „gegen rechts“ wiederaufgeführt. Statt die Ängste und Proteste der Bevölkerung in öffentlichen Diskursen aufzugreifen oder eine neue Partei als Bereicherung eines in Alternativlosigkeiten versandeten öffentlichen Diskurses zu begreifen, werden diese ins Zwielicht gerückt. Doch Denkverbote beschädigen die Stärke der offenen Gesellschaft, nämlich aus dem freien Wort heraus alternative und differenzierte Wege zu ermöglichen.

Eine Analyse des Gewaltislams ist in hohem Maße gefordert, weil die Übergänge zwischen Islam und Islamismus und Dschihadismus oft fließend sind. Nach der einschlägigen Studie des Bundesinnenministeriums über „Muslime in Deutschland“ gaben 46,7 Prozent der Befragten an, dass ihnen die Gebote der Religion wichtiger seien als die Demokratie, und ein Viertel der muslimischen Jugendlichen bejahte schon 2007 die eigene Bereitschaft zur körperlichen Gewalt gegen Ungläubige im Dienst der islamischen Gemeinschaft. Diese sind noch lange keine Gewalttäter, aber ein Potenzial, aus dem sich Einzelne oft herauslösen.

Es gibt gemäßigte und radikale Varianten von Ideologien

Die Ebenen Islam, Islamismus und Dschihadismus sind nicht dasselbe, aber die eine könnte es nicht ohne die andere geben, so wie es Nationalismus nicht ohne Nation, Kapitalismus nicht ohne Kapital oder den „real existierenden Sozialismus“ nicht ohne die Ideologie des Sozialismus geben konnte. Es gibt gemäßigte und radikale Varianten von Ideologien. Wenn aber die Ideologisierung einer Religion nichts mit der Religion zu tun haben darf, bleibt das Geschehen unerklärlich. Im Begriff „Islamismus“ geht es um eine ideologisierte Form des Islams. Spätestens nachdem wieder einmal mit viel Glück ein Terroranschlag bei Frankfurt verhindert worden ist, sollten wir mit der entschlossenen Bekämpfung beginnen. Zunächst sollte sich der Fokus der Kritik weniger gegen unsere Nachrichtendienste als gegen dschihadistische Gewalttäter richten.

Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" ist nur empirisch richtig

Einige fordern, dass bei populistischen Protestbewegungen genauso differenziert werden muss wie beim Islam.
Einige fordern, dass bei populistischen Protestbewegungen genauso differenziert werden muss wie beim Islam.

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Der Satz der Bundeskanzlerin „Der Islam gehört zu Deutschland“ ist nur in einem empirischen, aber nicht in einem normativen Sinne richtig. Letzteres zu ändern, ist die Hauptaufgabe in der Integrationsarbeit, die beiden Seiten gestellt ist. Ihr Erfolg dürfte nicht zuletzt darüber entscheiden, ob es gelingt, den Islamismus auf kleine Randgruppen einzugrenzen und entsprechende Figuren auszugrenzen. Diese Ausgrenzung des Islamismus könnte der Minimalkonsens zwischen den allermeisten muslimischen Zuwanderern und dem säkularen Staat sein. Auch Angela Merkel ergänzte ihren Satz dahingehend, dass „der Islamismus nicht zu Deutschland gehört“. Das Grundgesetz schütze nur die Glaubensbekenntnisse, die sich innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen. Islamismus und Extremismus gehörten nicht dazu und müssten entschlossener bekämpft werden.

Wie wenig sich das um seine Ruhe und Wohlfühlgesinnung besorgte Europa gegen den Islamismus zur Wehr setzt, zeigt sich auch in der Nicht-Solidarität mit den in Teilen der islamischen Welt verfolgten Christen. In der Asylpolitik spielt die Rolle der Religion keine Rolle. Doch selbst hier ist auf Dauer eine religionspolitische Differenzierung geboten, um Europa besser vor den Kulturkämpfen des Nahen Ostens zu schützen. Es sollte den Aufnahmeländern nicht egal sein, ob ägyptische oder syrische Islamisten vor säkularen Regimen oder ob religiöse Minderheiten vor Islamisten fliehen. 700 000 der zuvor 1,5 Millionen Christen Syriens mussten vor Islamisten fliehen, weil sie dem säkularen Assad-Regime nahegestanden hatten. Als Flüchtlinge treffen sie in Deutschland auf die Sympathisanten ihrer Verfolger, die oft ebenfalls Asyl oder den Duldungsstatus erhalten. Auf diese Weise werden Konflikte des Nahen Ostens ungefiltert nach Deutschland importiert. Minderheiten wie Christen, Jesiden, Bahai oder säkulare Muslime sollten bei der Asylaufnahme Vorrang vor Islamisten erhalten.

Zur Beschwichtigungsstrategie gehört ebenfalls der Verweis auf die Zahlenverhältnisse. Auch Nazis und Bolschewisten waren zum Zeitpunkt ihrer Machtergreifung nicht mehrheitsfähig. Extremisten, zumal gewalttätige, sind immer Minderheiten. Die entscheidende Frage lautet, wie es um die Abwehrbereitschaft der friedlichen Mehrheit steht. Nicht die Zahl der Muslime rechtfertigt die Angst vor der Islamisierung (bis 2020 werden allenfalls sechs Prozent Muslime in Deutschland erwartet), sondern deren überproportional großer Einfluss auf zentrale Bereiche der Gesellschaft, vom Straßenbild bis zur Gesetzgebung.

Islamismus fällt nicht unter Religionsfreiheit, sondern unter politischen Extremismus

Deutschland kann im Kampf gegen den Islamismus auf die im Kampf gegen den politischen Totalitarismus bewährte „Wehrhafte Demokratie“ des Grundgesetzes zurückgreifen. Vom Parteien- und Verbändeverbot bis hin zur Einschränkung der Pressefreiheit bei Gewaltpropaganda (Art. 18 GG) hält unsere Verfassung ein Arsenal von Abwehrmaßnahmen gegenüber dem politischen Extremismus bereit. Bevor sie auf die neue Bedrohung übertragen werden, müsste Übereinstimmung darüber herrschen, dass Islamismus nicht unter Religionsfreiheit, sondern unter politischen Extremismus fällt. Aus den Verfassungsartikeln ließen sich eine Fülle von notwendigen Gesetzen ableiten, die etwa religiös motivierte Gewalthetzer konsequent auszuweisen gebieten. Nach den Pariser Anschlägen stimmte das Bundeskabinett einer Verschärfung des Strafrechts zu, der zufolge zukünftig schon der Versuch zur Abreise in eine Region, in der sich Ausbildungslager für Terroristen befinden, strafbar ist und lange Gefängnisstrafen zur Folge haben kann. Auch die Finanzierung von Terrorismus steht künftig unter Strafe.

Mit Recht werden Kreuzzüge, die spanische Inquisition und Korruption des Klerus in eine Beziehung zum Christentum gesetzt. Aus der Kritik an diesen Fehlentwicklungen nahmen Reformation und Aufklärung ihren Ausgang. Wer die Beziehung zwischen Islam und Islamismus leugnet, behindert die notwendigen Reformprozesse im Islam. Die Unterscheidung zwischen dem Islam als Ideologie und den Muslimen als Individuen setzt wiederum den Willen der Individuen voraus, eigene Positionen einzunehmen, also sich aufklärerischen Ansprüchen zu öffnen.

Bei den meisten Muslimen herrscht ebenfalls ein Biedermeiertum vor, welches seine Ruhe will, damit aber die Scharfmacher gewähren lässt. Und auch hier gibt es Illusionskünstler, die die Wirklichkeit mit schönen Worten romantisch überhöhen. Die spirituellen Visionen eines Mouhanad Khorchide suchen sich aus dem Koran passende Suren aus, die einen barmherzigen Islam proklamieren, ohne deren Spannungsverhältnis zu den kriegerischen Suren zu problematisieren. Insbesondere die Geistlichkeit des Islams indes sollte sich fragen, was sie gegen die Radikalisierung und Ideologisierung tun will. Bloßes Bedauern reicht nicht. Die aktive Auseinandersetzung mit den Gewaltakteuren müsste in Koranschulen und Moscheen beginnen. Wer die Zusammenhänge zwischen Islam und Islamismus verleugnet, verringert auch die staatlichen Möglichkeiten zur Gewaltprävention. Der Islamkundeunterricht an deutschen Schulen sollte nur von nachweislich verfassungstreuen Lehrern gegeben werden.

Innerhalb der westlichen Demokratien kann es keine Leitkultur mehr geben

Einige fordern, dass bei populistischen Protestbewegungen genauso differenziert werden muss wie beim Islam.
Einige fordern, dass bei populistischen Protestbewegungen genauso differenziert werden muss wie beim Islam.

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Die religionspolitische Problematik des Islamismus steht quer zu sozial-ökonomischen Konflikten. Im Kampf von Kulturen macht die altideologische Unterscheidung zwischen „links und rechts“ wenig Sinn. Eingeübte Gegensätze wie Freiheit oder Sicherheit sind ebenfalls wenig hilfreich. Sicherheit ist nicht der Gegensatz, sondern eine Voraussetzung von Freiheit. Toleranz gegenüber den Feinden der Toleranz droht die Toleranz im Ergebnis zu zerstören.

Innerhalb der westlichen Demokratien kann es keine Leitkultur mehr geben. Die Vielfalt an Kulturen und Religionen in Europa erlaubt nur noch eine Koexistenz der Kulturen. Umso wichtiger wird die politische Integration in die Leitstruktur der demokratischen Staatsordnung. Dazu gehört die Akzeptanz der Verfassungsordnung, der Gesetzesgehorsam und der Respekt vor staatlichen Institutionen, von den Schulen bis zu den Gerichten, und zwar unabhängig davon, ob man deren Werte und Inhalte teilt. Identitäten und Religionen müssen in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auch gegenüber den Strukturen und Funktionen als nachrangig gelten. Die Leitstruktur der pluralistischen Demokratie ermöglicht unterschiedliche Leitkulturen.

Selbst in Regionen, in denen nur noch Reste des Christentums vorhanden sind, wird plötzlich „für das Abendland“ gestritten

Die Differenzierung von populistischen Protestbewegungen ist genauso angezeigt wie die des Islam. Heute bauen sich fast überall in Europa neue Parteien und Bewegungen auf, welche die Bewahrung der eigenen Kultur thematisieren. Selbst in Regionen, in denen nur noch Reste des Christentums vorhanden sind, wird plötzlich „für das Abendland“ gestritten. Dies geschieht so lange dumpf und sprachlich ungelenk, wie Intellektuelle und Medien diesen „Populismus“ von mehrheitlich nichtradikalen Bürger diffamieren, anstatt ihn in den öffentlichen Diskurs zu integrieren.

Die nationalistische Ideologie reicht von bürgerlichen Patrioten, die sich für das Gemeinwohl ihres Landes einsetzen, über Wutbürger und mehr oder weniger radikale Populisten, demokratische Nationalisten bis hin zu gewaltbereiten Rechtsextremisten. Sie allesamt unter dem Begriff „rechts“ in einen Sack zu stecken, dient weder der Analyse noch der Notwendigkeit, auch mit Hilfe von konservativen Kräften Rechtsextremismus und Islamismus zu bekämpfen. Konservative vermögen in religiösen und kulturellen Kategorien zu denken und über die Wurzeln unserer Kultur zu reflektieren. Sie sind für eine Gesellschaft so wichtig wie die Bremsen beim Auto. Ihr skeptischer Geist erinnert an die Grenzen von Aufklärung und Demokratie, deren Missachtung den Westen in so viele Kalamitäten verstrickt hat.

Die Rolle der Frau im Paradies ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die zunehmende Zahl der gut ausgebildeten jungen Frauen in der islamischen Welt weiterhin den Männerfantasien im Diesseits und Jenseits unterwerfen. Sie könnten bald ein revolutionäres Subjekt gegenüber Islamismus und Dschihadismus sein. In ihrer Unterstützung wäre das „gender mainstreaming“ sinnvoll gefordert.

Auf eine steigende Zahl arbeitsloser junger Menschen des Nahen Ostens und Nordafrikas übt zwar nicht die westliche Demokratie, aber die westliche Zivilisation im Sinne ihrer technischen Möglichkeiten und materiellen Erfolge eine hohe Anziehungskraft aus. Der „youth bulge“ in der arabischen Welt wird nicht anders als durch eine forcierte Zivilisierung und Ökonomisierung bewältigbar sein, zumal immer mehr gut ausgebildete Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen.

Anders als die Identitäten und Werteordnungen (Kulturen) zwingen die Strukturen und Funktionen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zur Rationalität. Über den Minimalkonsens Funktionalität, Rationalität und Zivilität könnten sich die Kulturen und damit auch das „unterjüngte“ Europa und der „überjüngte“ Nahe Osten ergänzen.

Volker Perthes von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ schlägt eine Förderung der Berufsausbildung innerhalb der arabischen Welt sowie ein Programm vor, das sich an Hochschulabgänger aus arabischen Ländern richtet. Solche Maßnahmen würden die Lage arbeitsloser Jugendlicher verbessern, deren Migrationswünsche nach Europa in geordnete Bahnen lenken und im Idealfall eine "brain circulation“ zwischen den Kulturen einleiten. Das könnte dem Westen aus seiner politischen Defensive heraushelfen, uralte religiös-kulturelle sowie alte ideologisch-politische Konflikte relativieren und den Kampf der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation transformieren.

- Heinz Theisen unterrichtet Politikwissenschaften an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Demnächst erscheint von ihm das Buch „Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation“ (Lau-Verlag, Reinbek 2015).

Heinz Theisen

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