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Ein Fahrzeugkonvoi mit Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), auf dem Weg von Al-Rakka (Syrien) in den Irak.

© AP/dpa

IS-Terror an den Jesiden: Was soll mit inhaftierten IS-Kämpfern geschehen?

Deutschland streitet über die Rücknahme von IS-Kämpfern. Ein jesidischer Junge, der jahrelang von ihnen gefoltert wurde, sagt: „Töten.“ Ein Essay.

Plötzlich sah ich die Bilder überall. Jesidische Jungs, die nach rund viereinhalb Jahren aus der Gefangenschaft des IS befreit wurden. Jungs, die 2014, als der IS die zumeist kurdischen Stellungen überrannte und entsetzliche Massaker an der jesidischen Bevölkerung verübte, regelrecht versklavt wurden. Jungs, die nach der Befreiung durch die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) so apathisch in die Kamera blickten, dass bereits die zutiefst verstörenden Bilder eine leise Ahnung davon vermittelten, unter welch unmenschlichen Bedingungen sie ihre Kindheit verbringen mussten. Kinder mit zerzausten Haaren, denen die Entmenschlichung ins Gesicht geschrieben ist.

Einer der befreiten Jungs: Dilber. Seine Tante Hakema kam 2015 als eine der Überlebenden des Völkermordes an den Jesiden mit einem Sonderkontingent nach Baden-Württemberg. Und diese Tante hat mir von Dilbers Schicksal erzählt, davon, wie er in Gefangenschaft geriet, dass seine Eltern von den IS-Schergen ermordet wurden. Und sie schickt mir Fotos, immer wieder Fotos, die das Grauen fassbar machen, das die Familie erleiden musste.

Über die Opfer wird geschwiegen

Zeitgleich wird in Deutschland diskutiert, ob das Land IS-Kämpfer zurücknehmen soll. IS-Kämpfer, die womöglich für die genozidalen Gräueltaten an den Jesiden, meiner Glaubensgemeinschaft, verantwortlich sind. Auf der einen Seite die Täter, auf der anderen Seite die Opfer. Und über die Täter wird in großen Aufmachern geschrieben, über die Opfer wird geschwiegen. Das Leid der Jesiden, vom IS als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“ wortwörtlich zum Abschuss freigegeben, interessiert eigentlich keinen.

Aber wenn man die Fotos sieht, die mir Dilbers Tante geschickt hat, dann ist das Grauen auf einmal ganz nah. Man – also ich, die Tochter jesidischer Eltern – wird von Traurigkeit überwältigt, aber auch von Ohnmacht. Man verzweifelt an einer Welt, die solch barbarische Verbrechen zuließ, als das „Nie wieder“ nach Ruanda und Sarajevo noch nicht einmal richtig verklungen war. Und plötzlich sind mir die Erinnerungen an das furchtbare Jahr 2014 wieder ganz nah, wie ich bei den Dreharbeiten zu meinem Dokumentarfilm „Hawar – meine Reise in den Genozid“ zur unfreiwilligen Chronistin des Völkermordes wurde. Und deshalb fahre ich wieder runter, in den Irak, um neue Bilder zu machen, um weitere Zeitzeugen dieses fortwährenden Völkermordes zu befragen – und um Dilber persönlich zu treffen.

In den vergangenen Jahren bin ich unzählige Male in den Irak gefahren, aber das ist meine schwerste Reise, denn der IS ist – zum Glück! – am Kollabieren, die von ihm hinterlassene Zerstörung ist jetzt jedoch erst überall zu sehen. An den zerstörten Gebäuden, an den vom Krieg geschundenen Landschaften, aber vor allem an den letzten Überlebenden, die erst mit dem Zusammenbruch des vermeintlich „islamischen“ Staates ihren Peinigern entfliehen können. Überlebende, die ich treffe, um sie zu ihrem Martyrium zu befragen, aber auch dazu, was sie davon halten, dass Deutschland womöglich IS-Kämpfer aufnimmt. Und nach einer angemessenen Strafe für die Täter, die ihnen dieses unmenschliche Leid zugefügt haben.

Die Geschichten, die ich von den überlebenden Jesiden höre, ähneln sich. Kleine Jungen erzählen mir immer wieder, dass sie vom IS trainiert worden sind, um eines Tages selbst zu Kriegern für den IS zu werden. Dass sie immer und immer wieder Koranverse rezitieren mussten. Dass sie als „Ungläubige“, als „Teufelsanbeter“ beschimpft wurden. Dass die permanente Gewalt, die Erniedrigung, das Umerziehungsprogramm des IS die Seele zerfraß, dass sie am Ende selbst dazu übergingen, ihre Eltern, ihre Vorfahren, ihre jesidische Glaubensgemeinschaft als „Ungläubige“ zu verspotten.

Als wäre die Gehirnwäsche nicht schon schlimm genug, erzählen mir die kleinen Ex-Gefangenen auch noch vom Verrat. Erzählen mir davon, dass es auch Jesiden waren, die sie während der Gefangenschaft verraten haben, um besser bei den IS-Kämpfern dazustehen. Je länger ich ihren Geschichten zuhöre, desto mehr verschwimmen Gut und Böse. Eine Erfahrung, die ich nicht das erste Mal im Irak mache; das habe ich bei meinen Reisen immer wieder festgestellt. Dass es dort kein einfaches Schwarz-Weiß gibt, dass die Welt komplizierter ist, als es von Deutschland aus den Anschein hat.

„Sie haben keine zweite Chance verdient.“

Und dann treffe ich Salih. Salih war ebenfalls viereinhalb Jahre in IS-Gefangenschaft. Als ich ihn frage, was mit den IS-Tätern geschehen soll, sagt er: „Töten.“ Eine Aussage, die einen aufschrecken lässt, von der er aber auch nicht abrückt: „Sie haben keine zweite Chance verdient.“ Und gefragt, was er davon hält, dass Deutschland IS-Kämpfer zurücknimmt, die gleiche kühle Reaktion: „Sie haben es nicht verdient, nach Deutschland ausgeliefert zu werden.“

Aber als er beginnt, seine Geschichte zu erzählen, fängt man zumindest an zu verstehen, warum er so reagiert: „Als ich in Gefangenschaft war, gab es einen IS-Kämpfer, der besonders brutal war und aus Deutschland kam. Abu Anis Al Almani wurde er genannt. Ich war zusammen mit meinem Vater in Gefangenschaft. Das ist übrigens das Schlimmste, die Menschen, die man liebt, leiden zu sehen. Ich muss dabei zuschauen, wie sie meinen Vater behandeln, und mein Vater muss dabei zuschauen, wie sie mich behandeln. Zweimal habe ich Ungehorsam geleistet, dann wurde ich brutal niedergeknüppelt und zusammengeschlagen. Und dann bin ich da in den Kerker gekommen. Was die mit uns gemacht haben? Wie Tiere behandelt. Wir wurden eingesperrt. Wir sind fast verhungert. Es war nicht so, dass es nicht genug Essen gab, aber die jesidischen Kinder bekamen nicht genug zu essen. Gerade einmal am Tag, gerade genug, dass sie überleben müssen und nicht sterben dürfen.“ Das sind Erzählungen, die einen nicht loslassen, die einen in die Nacht verfolgen.

Reisen durch die Region Kurdistan und den Irak sind alles andere als leicht zu bewältigen. Sie stecken voller logistischer Schwierigkeiten und Risiken, etwa die allgegenwärtigen Checkpoints. Eine eigentlich einfache Reise von Erbil nach Shingal, in die jesidische Stadt, die so furchtbar vom IS heimgesucht wurde, ist nahezu unmöglich, da das Passieren der Checkpoints nur mit den entsprechenden Stempeln im Pass möglich ist.

Halbes Leben in Gefangenschaft

Und dann frage ich einen Jesiden, wem Shingal denn jetzt gehört. „Weißt du das noch gar nicht“, sagt der Jeside, „Shingal ist jetzt in der Hand der Mafia. Aber den Jesiden gehört Shingal schon lange nicht mehr.“ Was er damit meint, ist, dass plötzlich alle ihr Interesse an Shingal entdecken. Die verschiedenen Verteidigungseinheiten, die Schiiten, die Kurden, die Weltmächte. Shingal gehört offenbar plötzlich allen, nur nicht mehr den Jesiden.

Schließlich schaffe ich es, Dilber zu treffen, wenige Tage, nachdem er befreit wurde. Den kleinen Jungen, den ich nur von den Erzählungen seiner Tante und von den Bildern kenne. Dilbers Geschichte ist erschütternde Realität für diesen so blutigen Teil der Welt: Dilber wurde seinen Eltern am 15. August 2014 in Kocho, einem kleinen Dorf im Distrikt Shingal, von IS-Kämpfern entrissen, sein Vater wurde anschließend von den IS-Kämpfern in einem Massengrab wie bei einer Einsatzgruppe hingerichtet, seine Mutter ist zunächst ebenfalls in IS-Gefangenschaft geraten, wurde dann aber ebenfalls getötet.

Es ist ein Onkel, der sich zunächst um den verstörten Jungen kümmert. Einen Jungen, der sein halbes Leben in Gefangenschaft verbracht hat und deshalb nicht mehr seine kurdische Muttersprache spricht. Und der laut seinem Onkel vom IS wie ein Tier behandelt wurde, was man beim Blick ins Gesicht von Dilber auch sofort glaubt, da es voller vernarbter Wunden ist. Der Onkel erzählt schließlich, wie es zu diesen Narben gekommen ist, eine zutiefst verstörende Geschichte: Als die Mutter noch in Gefangenschaft war, schaffte sie es, heimlich anzurufen. Sie schrie ins Telefon, sie bringen meinen Sohn um, er hat offene Wunden im Gesicht, ich darf ihn nicht verarzten. Das war das letzte Mal, dass sie direkten Kontakt zu der Frau hatten, die nur wenig später in Tal Afar umgebracht wurde.

IS-Frauen sehen in Jesidinnen Sklavinnen

Überhaupt die Frauen, die die Hölle in der IS-Gefangenschaft durchgemacht haben. In Deutschland hat sich der furchtbare Begriff „Sex-Sklavin“ für die Opfer eingebürgert, dabei hat das mit Sex gar nichts zu tun, das ist reine Gewalt, wir reden hier von brutalsten Vergewaltigungen. Und natürlich hört niemand gerne davon, dass zehnjährige Mädchen vergewaltigt und geschwängert wurden, aber das Unrecht wird nur noch größer, wenn es beschwiegen wird.

Aber Frauen sind nicht nur Opfer, sie können auch Täter sein. Die Frauen, die in Gefangenschaft waren, sagen mir immer wieder, wie brutal die IS-Frauen zu ihnen waren. Dass die IS-Frauen in den Jesidinnen keine Menschen oder Geschlechtsgenossinnen sahen, sondern Sklavinnen – angeblich sogar durch ihre Religion legitimiert. Oder, wie eine Überlebende es mir schilderte: „Einmal bin ich zu einer Mutter eines IS-Kämpfers gegangen und habe ihr die Füße geküsst. Und gesagt, wir sind doch beide Frauen. Und die Mutter hat mich mit den Füßen getreten und gesagt: Du bist Sklavin, keine Frau. Von mir wirst du keine Solidarität bekommen. Es ist gut, dass mein Sohn dich vergewaltigt.“

Und immer wieder kommen dieselben Fragen. Wie halten unsere Frauen das aus, woher nehmen sie die Kraft, warum fangen sie nicht an zu hassen, wohin gehen sie mit ihrer Wut? Und ich muss an Worte von Dilbers Tante denken, die sie mir bereits in Deutschland mitgegeben hat: „Ja, es ist schlimm, was mit uns geschehen ist, aber wir müssen weitermachen, wir müssen stark bleiben.“

Ich frage mich auch, warum die Täterinnen des IS in Deutschland so gut wegkommen. Warum eigentlich werden sie verniedlichend als „IS-Bräute“ bezeichnet, obwohl sie sich nachweislich an den Verbrechen beteiligt haben?

Welche Strafe ist angemessen?

Schließlich die Videos, die von gefangen genommenen IS-Frauen aufgenommen wurden. Wie sie in Rojava in Syrien von den Verteidigungseinheiten interviewt werden und keine Spur von Reue zeigen. Stattdessen heißt es nur: „Wir mussten das befolgen, was im Koran steht. Was da genau drinsteht, weiß ich zwar auch nicht, aber jesidische Frauen sind Ungläubige.“ Wenn Frauen eine Hälfte des Himmels tragen, was ist dann mit der Hölle? Lasst uns aufhören so zu tun, als wenn Frauen keine Täterinnen sein können – meine Solidarität gilt allein den Opfern.

Die Verbrechen des IS sind mit den Maßstäben unserer westlichen Demokratien kaum noch zu fassen, weder ethisch noch strafrechtlich. Und dennoch, wenn und weil wir uns nicht auf das Niveau dieser Verbrecher und ihrer Unterstützer begeben wollen, müssen wir an der Forderung rechtsstaatlicher Strafverfahren festhalten.

schreibt NutzerIn derverwalter

Das Strafmaß für die IS-Verbrechen? Ich weiß es nicht. Welche Strafe hat ein IS-Täter verdient, der sich immer und immer wieder an zehnjährigen Mädchen vergangen hat? Der gemordet hat, der geköpft hat? Welche Strafe ist da angemessen? Einerseits denke ich, dass allein das höchste Strafmaß angemessen ist. Sollen sie doch rasch im Irak abgeurteilt werden, statt nach Deutschland zu gelangen. Aber der Irak ist kein Rechtsstaat. Und das hat Folgen, die über die reine Bestrafung hinausgehen: Die Justiz arbeitet dort unter so schlechten Bedingungen, dass von einer Aufarbeitung des Völkermordes in den Gerichtsakten sicher nicht die Rede sein wird. Und ohne eine historische Aufarbeitung wird es keinen Frieden geben. Zudem berühren Verbrechen gegen die Menschlichkeit die internationale Gemeinschaft als Ganzes – und dürfen nicht unbestraft bleiben.

Ob die Wunden jemals heilen werden? Niemals. Sie werden immer offener und sichtbarer. Und die Narben klaffen immer wieder auf, der vom IS verbreitete Horror wird die Jesiden niemals loslassen. Wir sind ja gerade mal eine Million Menschen. Dilbers Gesicht ist für immer von den Narben gezeichnet, den Jesiden als Ganzes wird es auch nicht anders gehen. Und denjenigen, die mich nach einer zweiten Chance für die IS-Täter fragen, möchte ich eine Gegenfrage stellen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn ihre Tochter im Alter von sieben Jahren oral, vaginal und anal vergewaltigt wird? Das ist drastisch, das ist plastisch, aber das ist für viel zu viele jesidische Mädchen die erschütternde Realität. Die Wunden heilen sicher nicht, wenn die Täter frei rumlaufen. Und wir müssen realisieren, dass Recht und Unrecht im Nahen und Mittleren Osten nicht losgelöst von unseren Werten in Europa betrachtet werden können. Schließlich ist der Krieg auch deutscher, als viele glauben. An der Front wurde auch Deutsch gesprochen. Die Täter sind Kriegsverbrecher. Sie gehören ins Gefängnis. Das sind wir uns selber schuldig – sonst haben wir unsere Werte verkauft.

Düzen Tekkal ist freie Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin (Schwerpunkt Syrien und Irak) - und ist selbst Jesidin.

Düzen Tekkal

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