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Westerwelle

© dpa

Interview: Guido Westerwelle: "Ich will nicht beliebt werden"

Guido Westerwelles liberaler "Marathonlauf" in der Regierung: Der FDP-Chef und Außenminister spricht mit dem Tagesspiegel über Provokationen, den Sozialstaat und Patriotismus.

FDP-Vorsitzender will ich sein – Außenminister muss ich nicht sein. Ist das ein Satz, den Guido Westerwelle unterschreiben kann?


Ich will beides sein. Und ich bin den Bürgern sehr dankbar, dass ich die liberalen Ideale für unser Land Schritt für Schritt umsetzen darf. Das ist wie bei einem Marathonlauf, der bekanntermaßen mit dem ersten Schritt beginnt. Den habe ich jetzt getan.

Die Kanzlerin behandelt Sie seit Wochen wie einen politischen Gegner, nicht wie einen Partner.

Das Verhältnis zwischen Angela Merkel und mir ist ungetrübt. Wir treffen uns mindestens einmal die Woche unter vier Augen, meist auch häufiger, telefonieren und simsen, was die Finger hergeben.

Die öffentliche Zurechtweisung durch die Kanzlerin in der Sozialstaatsdebatte nennen Sie konstruktiv?

Tonalitäten sind Geschmacksfragen. Der eine neigt zur temperamentvollen, klaren Aussprache, der andere nicht. Am Ende geht es doch nur um den Inhalt. Und da sehe ich mich zunehmend auch durch Wortmeldungen aus der Union bestätigt.

Der Koalitionspartner hat den Eindruck, Ihre scharfe Sozialstaatskritik richte sich auch gegen ihn. Ist das so?

Ich richte mich gegen niemanden. Ich arbeite vielmehr für etwas. Mir geht es um eine größere Treffsicherheit des Sozialstaates. Die Hilfe muss bei den wirklich Bedürftigen ankommen. Und ich kämpfe für die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen, weil die goldene Regel der sozialen Marktwirtschaft zusehends infrage gestellt wird. Wer mehr arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.

Wie lange funktioniert eine Koalition, in der sich die Partner anhaltend gegenseitig Regierungsunfähigkeit oder Maßlosigkeit vorwerfen?

Ich bin jetzt eineinhalb Jahrzehnte in der Politik und habe noch nie erlebt, dass mit der FDP zimperlich umgegangen wurde. Mittlerweile habe ich ein dickes Fell. Union und FDP sind mit unterschiedlichen Erfahrungen in diese Koalition gegangen. Die Union hat mit der SPD regiert und natürlich darf man nicht von ihr erwarten, dass sie diese Zeit nur schlechtredet. Die FDP war in der Opposition und hat das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte bekommen, damit es nicht nur einen Regierungs-, sondern auch einen echten Politikwechsel gibt. Selbstverständlich hat es da zu Anfang Ruckeleien gegeben. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sich das nach und nach zurechtrütteln wird. Für die Bürger kommt es doch nur darauf an, was dabei rauskommt.

Was kann herauskommen, wenn seit vier Monaten nur gestritten wird?

Die ersten Ergebnisse können sich sehen lassen – von der Erhöhung der Kinderfreibeträge bis zur Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge von der Steuer. Die letzte Koalition hat unmittelbar nach der Regierungsübernahme die Mehrwertsteuer erhöht, wir das Kindergeld.

Braucht die Koalition mehr inhaltliche Führung?

Nein. Aber die Koalition braucht mehr als 100 Tage, um Politik mit einer neuen Handschrift zu gestalten. In wichtigen Fragen, von der Gesundheits- über die Energie- bis hin zur Sozialpolitik haben wir unsere gemeinsamen Positionen erst finden müssen. Nehmen sie die Gesundheitspolitik: Da geistern Phantasiezahlen durch die Reihen, was die dringend nötige Reform angeblich kosten soll. Nichts davon ist richtig. Jetzt werden, auch im Gesundheitsbereich, Kommissionen an den Inhalten arbeiten und konkrete Ergebnisse vorlegen.

Regiert wird also nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen?

Regiert wurde vom ersten Tag an. Wir lassen uns unsere Arbeit nicht von Landtagswahlterminen vorschreiben. Was erledigt werden muss, wird gemacht. Manches schneller, manches braucht aber eben länger. Das ganze Gerede der Opposition von der sozialen Apokalypse nach der NRW-Wahl ist Quatsch. Jeder weiß doch, dass Anfang kommenden Jahres in den nächsten Bundesländern gewählt wird.

Ist die FDP kompromiss- und regierungswillig?

Die FDP hat lange Zeit im Bund ihre Regierungsfähigkeit bewiesen, in acht Bundesländern tut sie das jetzt genauso. Wir wissen, was Regieren ist. Wir wissen auch, dass mancher idealistische Wunsch, der in der Opposition formuliert wird, in einer Regierung mit den realpolitischen Notwendigkeiten übereingebracht werden muss. Da bin ich nicht naiv. Ich stelle fest, dass mehr und mehr Unionspolitiker zu der Überzeugung gelangen, dass sie mit uns die Chance haben, gute bürgerliche Politik der Mitte zu machen.

Fühlen Sie sich von einer undankbaren Öffentlichkeit verkannt, auch und gerade in der Sozialstaatsdebatte?

Verwechseln Sie nicht die veröffentlichte Meinung in den Medien mit der Auffassung der Bevölkerung. Ich habe fast 10 000 Briefe und Mails in den letzten 14 Tagen erhalten. Etwa drei Viertel der Zuschriften ermutigen mich, unbeirrt weiterzumachen. Der Opposition sei gesagt: Ich habe keinen einzigen Hartz-IV-Empfänger kritisiert, der einen Schicksalsschlag erlitten hat. Ich habe mit keiner Silbe das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Ich habe nichts anderes gemacht, als die eine halbe Stunde nach dem Verfassungsgerichtsurteil einsetzende Debatte aus der Opposition zu kritisieren, nach dem Hartz-IV-Urteil müsse die FDP ihr Anliegen, die Steuern und Abgaben für die kleinen und mittleren Einkommen zu senken, einpacken. Und ich weiß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf meiner Seite.

Wie gehen Sie mit den massiven Angriffen auf Ihre Person um?

Wenn ich es nicht mein ganzes politisches Leben hindurch gewöhnt wäre, dass mit wenigen Politikern so robust umgegangen wird wie mit mir, hätte mich das vielleicht getroffen. Ich will nicht beliebt werden, sondern das Richtige tun. Ich prüfe mich in solchen Situationen sehr genau. Und wenn ich dann zu dem Ergebnis komme, ich habe das Richtige gesagt, dann setze ich das auch fort. Dafür bin ich in Regierungsverantwortung gewählt worden. Ich darf vor einem Sperrfeuer der Kritik nicht zurückschrecken, weil die Sache, für die ich kämpfe, richtig ist. Es führt kein Weg daran vorbei, dass es ohne Leistungsgerechtigkeit keine Verteilungsgerechtigkeit geben kann.

Empfinden Sie es als Beleidigung, wenn Ihnen Sozialpopulismus vorgeworfen wird?

Es ist unerhört, wenn man die FDP als liberale Partei der Leistungsgerechtigkeit in eine rechtsradikale Ecke stellt. Wenn ein klassisches Thema der Mitte für manche Kritiker der Opposition schon rechtsradikal ist, zeigt das, wie weit diese Leute schon nach links außen gerutscht sein müssen.

Viele fühlen sich wegen Ihrer Attacken auf den Sozialstaat an Jürgen W. Möllemann, manche gar an Jörg Haider erinnert. Beide haben immer behauptet, im Auftrag einer schweigenden Mehrheit Tabus zu brechen.

Es gab in den letzten zwei Wochen zwei Momente, wo ich mich persönlich nur noch gewundert habe. Der eine war, als mich ein linkes Medium mit Adolf Hitler verglichen hat. Das gehört sich nicht, da hört der Spaß wirklich auf. Der andere war, als die Sozialdemokraten in dieser Woche aus meiner freiberuflichen Tätigkeit vor dem Regierungseintritt einen verleumderischen Angriff unter der Gürtellinie gefahren haben.

Sie sprechen von einem bezahlten Auftritt bei einer Liechtensteiner Banktochter in der Schweiz.

Ich habe mich bei all meinen freiberuflichen Tätigkeiten hundertprozentig korrekt verhalten. Ich habe meine gesamten Tätigkeiten dem Bundestagspräsidenten gemeldet und dieser hat das unverzüglich veröffentlicht.

Wie erklären Sie sich denn, dass Ihre Sozialstaatskritik nur als heftige Schelte an den Betroffenen verstanden wurde?

Drei Dinge dazu: So, wie es Steuerhinterziehung gibt, gibt es auch Sozialmissbrauch. Wer Steuerhinterzieher kritisiert, kritisiert damit ja auch nicht alle Steuerzahler. Zum Zweiten gehört zur Treffsicherheit des Sozialstaates auch das Thema Schwarzarbeit. Das sollte hier niemand vergessen. Man muss beide Formen bekämpfen: Steuerhinterziehung und Sozialmissbrauch. Und drittens: Viel zu wenig wird noch darüber gesprochen, dass es auch einen Missbrauch des Sozialstaates in der Wirtschaft gibt. Nämlich bei Unternehmen, die mit ihren Beschäftigten Kleinstverträge machen, um einem ordentlichen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zu entgehen und sich darauf verlassen, dass sich der Sozialstaat um ihre Mitarbeiter kümmert.

Brauchen wir eine Art Sozialstaatspatriotismus?

Grundsätzlich brauchen wir in Deutschland mehr Patriotismus, einen gesunden Verfassungspatriotismus, bei allen.

Nutzt die Wirtschaft den Sozialstaat aus?

In den letzten zwei Wochen ist mir von Hartz-IV-Empfängern immer wieder von Kleinstverträgen oder auch permanenten Praktika berichtet worden. Ich bin überzeugt, dass es auch in der Wirtschaft schwarze Schafe gibt, die die Mittel des Sozialstaats preisgünstig mitnehmen, obwohl sie eigentlich in der Lage wären, Arbeitsplätze zu schaffen. Auch das habe ich in den letzten zwei Wochen mehrfach gesagt. Allerdings wollte es keiner hören, weil es nicht ins Klischee passt.

Apropos Klischee: Sprechen Sie von dem des eiskalten Politikers?

Ich bin jemand, der sich seit vielen Jahren sozial engagiert. Ich hänge das nur nicht an die große Glocke und mache kein Medienereignis daraus. Wenn ich Nächstenliebe praktiziere, dann tue ich das für die anderen. Und als Christ füge ich hinzu: Auch für’s eigene Seelenheil.

Das Interview führten Stephan-Andreas Casdorff und Antje Sirleschtov.

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