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Oft werden Kinder operiert, wenn sie kein eindeutiges Geschlecht haben.

© dpa

Intersexualität: Ethikrat will mehr als zwei Geschlechter

Für Menschen ohne eindeutiges Geschlecht soll die Kategorie "anderes" eingeführt werden, fordert der Deutsche Ethikrat. Ein Hilfsfonds soll zudem für ungewollte Geschlechtsoperationen in der Vergangenheit entschädigen.

Die bis zu 10.000 Bundesbürger, die weder Mann noch Frau sind, sollen sich künftig auch amtlich unter „anderes“ einordnen lassen können. Die vielen Menschen ohne eindeutiges Geschlecht, die im Kindesalter Opfer von Operationen zur Geschlechtszuordnung wurden, sollen Geld aus einem Entschädigungsfonds erhalten. Das empfahl der Deutsche Ethikrat am Donnerstag in Berlin in einer von der Bundesregierung beauftragten Stellungnahme. Die Bundesministerien für Familie, für Forschung und für Gesundheit sicherten eine Prüfung zu.

Der Ethikrat war nach eigenem Bekunden in eine für die Ethiker, Mediziner und Juristen weitgehend unbekannte Welt abgetaucht. 200 Betroffene und 30 Wissenschaftler wurden befragt, wochenlang eine Online-Diskussion dazu offengehalten. Mit vielfältiger Diskriminierung der „Menschen mit Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung“ solle nun Schluss sein, forderte der Rat einmütig.

So geschehe es bis heute, dass Ärzte Babys mit unklar ausgebildeten Geschlechtsorganen per Operation ein eindeutiges Geschlecht geben wollten, sagte das zuständige Ratsmitglied Michael Wunder. Die Intention der Ärzte sei: „Wie können wir das reparieren?“ Doch Wunder machte deutlich: „Es ist Unrecht, das in Zukunft verhindert werden muss.“

In der Stellungnahme wird unter anderem das Schicksal eines Menschen geschildert, bei dem nach der Geburt 1965 ein uneindeutiges Geschlechtsorgan festgestellt wurde. Im Bauchraum befanden sich zudem Hoden, das Baby hatte einen männlichen Chromosomensatz. Die Ärzte entfernten die Hoden, verschwiegen dies den Eltern aber genauso wie die Tatsache, dass ihr Kind chromosomal männlich war. Sie sagten laut Bericht zu den Eltern: „Das Kind ist ein Mädchen und wird es bleiben, die ganze Erziehung hat sich danach zu richten.“

Insgesamt gebe es 8000 bis 10.000 Intersexuelle in Deutschland, sagte Wunder unter Berufung auf eine Hamburger Forschergruppe. Vier von fünf würden operiert, davon bräuchten 40 Prozent psychologische Betreuung. Eine konkrete Zahl der zu Unrecht Operierten gibt es nicht.

Der Ethikrat forderte einen Hilfsfonds. Viele Menschen seien aufs Tiefste verletzt worden. „Sie haben Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten“, heißt es in der Stellungnahme.

Im Personenstandsregister sollten sich Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, nicht nur als „weiblich“ oder „männlich“, sondern auch als „anderes“ eintragen können. Wunder räumte ein: „Wir wissen, dass dieser Vorschlag kulturell, gesellschaftlich sehr viele Fragen aufwerfen wird.“ Deutschland könne aber international ein Signal für mehr Toleranz senden.

Auch Selbsthilfegruppen sollen laut dem Rat öffentlich finanziell gefördert werden. Betroffene und ihre Eltern sollten nur in einem speziellen Kompetenzzentrum über die einzelnen ärztlichen Disziplinen hinweg beraten und behandelt werden. Für die regelmäßige medizinische Betreuung solle ein Netz an geeigneten Stellen geschaffen werden. Auch Betroffene sollten dabei Betroffene beraten.

Forschungsstaatssekretär Georg Schütte sicherte eine sorgfältige Prüfung der Empfehlungen zu. „Die Schmerzen und das persönliche Leid, das die Betroffenen erfahren haben, lassen ein Verschweigen der Thematik nicht zu“, sagte er. „Gestatten Sie der Politik einen Lernprozess.“ Zum Vorschlag eines Hilfsfonds sagte er: „Das müssen wir uns anschauen, dafür brauchen wir die Zeit.“

Der Grünen-Menschenrechtsexperte Volker Beck begrüßte die Empfehlungen. „Die Bundesregierung muss hier endlich tätig werden und darf die Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen nicht länger tabuisieren“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Auf Antrag der Grünen berät der Bundestag derzeit mehr Rechte für Intersexuelle. Der Verein Intersexuelle Menschen äußerte sich überwiegend zustimmend zu den Empfehlungen. Die Vorsitzende Lucie Veith kritisierte aber, dass sich der Rat weniger streng zu Operationen von Betroffenen äußert, bei denen ein Geschlecht klarer festgestellt werden könne: „Die Genitalbeschneidung ist immer eine Verstümmelung.“

(dpa)

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