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Imam

© dpa

Integration: Schlachtfeld der Identität

Rot-Grün reformierte vor zehn Jahren das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht – seither hat sich die Integrationsdebatte verschärft.

Selten wurde so viel über Integration geredet wie im neuen Jahrhundert – und selten so viel erreicht? Mit einem Paukenschlag begann es vor zehn Jahren: Nach zähen Kämpfen  hob die rot-grüne Koalition eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts über viele parlamentarische Hürden, die man als fundamental ansehen kann: Zum bis dahin alleingültigen „Blutsrecht“ – deutsch ist, wer deutsche Eltern hat – trat erstmals und systematisch das „ius soli“. Deutscher kann seither auch sein, wer auf deutschem Boden geboren wurde oder aufwuchs.

Für ein alterndes Industrieland, aber auch für die Demokratie kam die Reform eher zu spät als zu früh. Ein knappes Fünftel der deutschen Bevölkerung hat inzwischen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Das alte, noch aus dem Kaiserreich stammende Recht trieb jedoch die Zahl jener Menschen gefährlich in die Höhe, die weder wählen noch gewählt werden dürfen. Die Kinder der deutschen Türken, Libanesen, Vietnamesen oder Bosnier haben ihr Leben hier verbracht. Aber der deutsche Staat sah sie nicht als Bürger – und verweigerte ihnen den Pass.

Für das Gefühl vieler Deutscher freilich, auch vieler Politiker, kam die Reform offenbar noch zu früh. Das Ressentiment gegen Zuwanderer scheint eher stärker geworden. Auch die Reform selbst hat das befördert. Aus den Grabenkämpfen zwischen Linken und Konservativen – unvermeidbar, weil der Bundesrat zustimmen musste – bekam sie tiefe Scharten ab. Die Optionsregelung zum Beispiel zwingt Migrantenkinder, sich zwischen der deutschen Staatsbürgerschaft und der ihrer Eltern zu entscheiden, sobald sie erwachsen sind. Die „Schnupperstaatsbürgerschaft“ auf Zeit macht sie eben wieder zu Deutschen zweiter Klasse und auf Widerruf.

Aber auch manche Reizworte wurden erst in den vergangenen zehn Jahren geboren, manche Schlachtfelder erst seither abgesteckt. Man entdeckte die „Parallelgesellschaften“, in denen sich Migranten angeblich organisierten. Der damalige Unionsfraktionschef Friedrich Merz erfand im Oktober 2000 die „gewachsene freiheitliche deutsche Leitkultur“, der sich die Migranten anzupassen hätten. Und man erschrak vor dem Kopftuch. Muslimische Frauen mit Kopftüchern gab es längst ab und zu an deutschen Schulen, aber erst jetzt entbrannte ein „Kopftuchstreit“. Im Gefolge der Klage der angehenden Lehrerin Fereshta Ludin, die deswegen 1999 in Baden-Württemberg vom Schuldienst ausgeschlossen wurde, sind inzwischen sieben Ländergesetze entstanden, die das Kopftuch verbieten. Und zwei spätere Ministerpräsidenten der CDU machten „Ausländer“-Wahlkämpfe: Im Jahre 2000 Jürgen Rüttgers, der allerdings erst fünf Jahre nach dem Schlachtruf „Kinder statt Inder“ Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident wurde, und Roland Koch, der 1999 den Volkszorn gegen die doppelte Staatsbürgerschaft in Hessen organisierte und prompt die Wahl gewann.

Die vielen Debatten, in deren Mittelpunkt Migranten nun stehen, verstärken das Gefühl, nicht mitten in der Gesellschaft zu stehen, sondern deren „Anderes“ zu verkörpern. Ausgegrenzt fühlen sich auch diejenigen, die man als angekommen betrachten müsste, die Aktiven, Engagierten, Gebildeten, Eloquenten. Der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour, Sohn iranischer Einwanderer, hat in seinem Buch „Mein Job, meine Sprache, mein Land“ beschrieben, wie er am Tag nach den Attentaten vom 11. September in der Bäckerei empfangen wurde, in der er seit Jahren Brötchen kaufte: Alle Gespräche verstummten. Und Studenten mit dunkler Haut und „anderen“ Namen berichten begeistert, erst während eines Auslandssemesters in den USA hätten sie sich als Deutsche gefühlt – weil man sie dort selbstverständlich als Deutsche ansprach.

Wird also alles immer nur schlechter? Vielleicht macht Deutschland einfach gerade Kinderkrankheiten durch, die jedes Einwanderungsland durchstehen muss. Der niederländische Autor Paul Scheffer hat in seinem Buch „Die Eingewanderten“ drei Phasen identifiziert: eine, in der sich Alteingesessene und Einwanderer zu meiden suchen, eine zweite, in der das nicht mehr funktioniert und aus der Konfrontation massive Konflikte entstehen. Und eine dritte, in der aus Fremden Bürger wie alle anderen geworden sind.

Es ist offensichtlich, dass Deutschland, dessen Kanzler lange sogar die Tatsache der Einwanderung leugneten, inzwischen in der zweiten Phase steckt: Man sieht auf beiden Seiten endlich hin – aber man bekriegt sich auch. Und dieser Kulturkampf ist notgedrungen asymmetrisch: Natürlich hat die Mehrheitsgesellschaft mehr Personal und Macht, die Verfehlungen der „Anderen“ anzuzeigen und zu verfolgen. „Ehrenmorde“, Schulversagen, die angebliche Rückschrittlichkeit des Islam füllen Zeitungsseiten, Sondersendungen, Parlamentsdebatten, Litfaßsäulen. Der Ruf „Passt euch gefälligst an!“ ist lauter als die Gegenfrage: „Und was tut ihr?“ Das Sündenregister der Abendlandsverteidiger wird bestenfalls in Seminarräumen verhandelt: Warum sind Parallelgesellschaften im Taunus und den Hamburger Elbvororten gut, unter Türken schlecht? Wie passt es zu einem aufgeklärten Rechtsstaat, seinen Bürgerinnen die Kopfbedeckung vorzuschreiben? Was ist hierzulande mit der Trennung von Religion und Staat?

Solange Deutschland den Integrationskonflikt noch so wenig nutzt, um die Bretter vor deutschen Köpfen auch nur zu bemerken, sind wir doch noch entfernt von Phase drei. Dabei haben sich die Volksvertreter ebenfalls vor zehn Jahren ein Mahnmal mitten ins Parlament gesetzt: Das wilde Beet des Künstlers Hans Haacke im nördlichen Lichthof des Reichstags, in dem sich Erde aus dem ganzen Land mischt. Es ist, als ironische Antwort auf die Widmung vorn am Wallot-Bau, nicht „Dem deutschen Volke“ gewidmet, sondern „Der Bevölkerung“.

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