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Schlange vorm Bürgeramt in der Neuköllner Sonnenallee: Bürokratie geht alle an und betrifft fast jeden.

© Gregor Fischer/dpa

Innovation aus Berlin: Die Bürokratie ist eine Zukunftsbranche

Die Erneuerung der Bürokratie ist eine Chance. Mit seiner kreativen Digitalszene und seinen Ansprüchen an individuelle Teilhabe bietet Berlin dafür beste Bedingungen. Ein Kommentar.

Die Verwaltung! Versuchen wir nur kurz unsere Vorurteile, die oft keine Vorurteile, sondern erlittene Erfahrungen sind, einfach wegzudenken. Was sehen wir dann, wenn wir an die Bürokratie denken? Die größte Branche der Erde.

Die wirkmächtigste Kraft, um das Schicksal der Menschheit zu verbessern. Mehr als hunderttausend Menschen in Berlin, ein paar Millionen Bürokraten im Land und Hunderte von Millionen von Menschen weltweit, die vieles, wenn nicht fast alles bewirken könnten, mehr als jede andere Gruppe. Berlin, die Stadt ohne Dax-Konzern und ohne nennenswerte Dichte von Konzernzentralen, wenn man von der Abfall- und Reinigungswirtschaft einmal absieht, hat hier ein Entwicklungspotenzial, das man gar nicht überschätzen kann: Als Innovationszentrum für die Bürokratien der Welt.

Die Voraussetzungen dafür sind in Berlin besonders schlecht – und damit besonders gut. Wer hier auf die Verwaltung angewiesen ist, der ahnt, wer vergleichen kann, der weiß: Schlechter ist es nirgends im Land. Die Ausgangslage ist auch einzigartig: Erst die Verdopplung der Verwaltung durch das Glück der Einheit, dann das planlose Eindampfen, dessen Ergebnis aus ruinösen Schultoiletten zum Himmel stinkt.

Jahre ohne Neueinstellungen haben zu einer Unterjüngung der Mitarbeiter geführt, die wir mit voller Wucht erst merken, wenn in den nächsten sieben Jahren mehr als ein Viertel der Beschäftigten in den Ruhestand tritt. Wenn Berlin heute von 100.000 Mitarbeitern im Landes- und Bezirksdienst auf 120.000 wachsen will, dann werden nicht 20.000 neue Mitarbeiter gesucht, sondern 50.000, weil auch die Ruheständler ersetzt werden müssen. Dabei finden sich schon heute nicht genug Richterinnen, Pfleger und Feuerwehrfrauen.

Die Engpässe heute sind erst Vorboten einer Krise

Auf allen Ebenen in der Verwaltung dämmert es, dass die heutigen Engpässe in Standesämtern, Schulen und Baubehörden nur Vorboten einer viel größeren Verwaltungskrise sind, deren Folgen wir kaum einschätzen können.

Wenn die Bürger immer unzufriedener mit der Bürokratie werden, wie ändert sich dann ihre Akzeptanz der Demokratie? Aus einer verrottenden Verwaltung wuchert der Populismus. Auch der engagierteste Personalrat kann nicht übersehen, dass die vielen immer noch begeisterten Wähler von Donald Trump jedes Mal jauchzen, wenn er einen Beschäftigten im öffentlichen Sektor, dem gehassten „deep state“, demütigt und feuert. Wer unserer Verwaltung und unserem Land eine solche Selbstzerstörung ersparen will, der denkt jetzt an Erneuerung – und sieht die guten Voraussetzungen in Berlin. Hoffnung macht der Umgang mit einer Studie, die der Senat in Auftrag gegeben hat, um die Verwaltung zu erneuern. Nicht ihre Dürftigkeit lässt uns hoffen, sondern dass dies vom Senat ohne fremde Hilfe erkannt wurde.

Teilhabe und Digitalisierung sind wichtige Herausforderungen

Vor zwei Jahrhunderten erblühte die Stadt durch eine bürokratische Innovationsoffensive: die Preußischen Reformen. Sie entstanden unter weit widrigeren Bedingungen und inspirierten Veränderungen in aller Welt, die bis heute nachwirken. Von den vielen Merkmalen, die eine erfolgreiche Verwaltung in Zukunft aufnehmen muss, sind zwei in Berlin besonders ausgeprägt – freilich noch außerhalb der Bürokratie: Teilhabe bis hin zu egoistischer Anarchie und eine Digitalszene, die nicht aus staatsverachtenden kalifornischen Zynikern besteht.

Ein erster Schritt kann die vereinfachte Zusammenarbeit von Staat und Start-ups sein – was bei Bundeswehr und Hochschulen schon gelingt – auf dem Weg zu einer neuen Government-Technology-Branche, die in Berlin ihr Zentrum finden kann. Auch die Vordenker sind da, etwa der Brite Charles Landry, der als Gastwissenschaftler der Robert-Bosch-Stiftung das Konzept der „Creative Bureaucracy“ nach Berlin gebracht hat. Für die Medien gibt es ebenso viel zu tun. Ihre Kritik an Verwaltungsmängeln verfestigt paradoxerweise oft die beschriebenen Probleme, während Erneuerungsmut manchmal übersehen wird. Wir werden ihn suchen und wir werden ihn finden.

Sebastian Turner

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