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Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) war bei den Sondierungen dabei.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Innenminister de Maizière: "Mit der SPD auf Augenhöhe verhandeln"

Er gehörte zu den Jamaika-Sondierern der CDU. Im Interview warnt Thomas de Maizière vor Kompromisslosigkeit bei Koalitionsgesprächen. Der Innenminister setzt vor allem auf Verschwiegenheit.

Herr de Maizière, waren Sie in diesem Jahr schon auf dem Weihnachtsmarkt?

Noch nicht. Aber am 5. Dezember werde ich ein Weihnachtskonzert der Bundespolizei in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche besuchen und vorher über den Weihnachtsmarkt gehen. Auch in Erinnerung an den Anschlag vor einem Jahr.

Der Anschlag konnte auch deshalb geschehen, weil Anis Amri zwar den Behörden bekannt war, aber sich niemand zuständig fühlte. Wäre das heute noch möglich?

Der offene Brief der Opferangehörigen hat mich tief berührt. Aber so bitter das auch ist: Es gibt keine absolute Garantie gegen Terroranschläge. Wir haben alle aus dem Fall Amri gelernt und eine Reihe von Konsequenzen gezogen. Wir haben das Abschieberecht verschärft, die Ausweisungsregelungen verändert und den Informationsaustausch auch innerhalb der EU verbessert.

Das Bundeskriminalamt hat für das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum seit dem ersten Juli ein neues System zur Bewertung von Gefährdern entwickelt und umgesetzt. Und künftig werden operative Maßnahmen, die im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum beschlossen wurden, auch von allen beteiligten Sicherheitsbehörden durch Absprachen gleichermaßen umgesetzt. Ich plädiere dafür, dass die nächste Regierung diese Verbindlichkeit rechtlich sicherstellt.

Wie schätzt das BKA die Gefährlichkeit von Gefährdern ein?

Es ist schwierig, die Gefährlichkeit von Menschen einzuschätzen. Aber Kriterien können dabei helfen: Welche Radikalisierungstendenzen gibt es? Bewegt sich der Betroffene in einem Umfeld, aus dem heraus schon früher gefährliche Straftaten begangen wurden oder bewegt er sich in einem sozialen Umfeld, das der islamistischen Szene fernsteht und deradikalisierend auf ihn wirkt? Hat der Betroffene einen Arbeitsplatz? Welche Reisebewegungen beobachten wir bei ihm? Was ist aus seinem persönlichen Umfeld bekannt? All diese Kriterien und weitere können bei der Einschätzung helfen, ob der Betroffene ein hohes, mittleres oder geringes Risiko darstellt.

Wie viele der derzeit rund 710 Gefährder in Deutschland sind hochgefährlich?

Das BKA und die Länder haben sich zunächst vor allem auf die Fälle konzentriert, die den Sicherheitsbehörden besonders gefährlich erscheinen und in denen bekannt ist, dass sich die Personen aktuell in Deutschland aufhalten. Etwas weniger als ein Drittel hiervon gilt als hochgefährlich.

Werden Hochgefährliche 24 Stunden am Tag überwacht?

Das wird im Einzelfall auch unter taktischen Gesichtspunkten entschieden. Der eine hält sich vielleicht in einer Asylunterkunft auf, der andere wechselt ständig seine Handys. Ein Dritter ist untergetaucht, und erst dann stellt sich heraus, dass er gefährlich ist. Und es gibt eventuell andere Maßnahmen, die die gewünschten Erkenntnisse liefern.

Gibt es Personen in Deutschland, die hochgefährlich sind und von denen Sie nicht wissen, wo Sie sind?

Wenn es so ist, dann wird alles darangesetzt, den Aufenthalt zu ermitteln und zu klären, ob wirklich eine Gefahr besteht. Teilweise haben wir auch nur die Information, dass sich eine potenziell gefährliche Person in Deutschland aufhält, haben vielleicht eine Handynummer, aber noch keinen Namen.

Herr de Maizière, wie zügig muss Klarheit über eine neue Regierung herrschen?

Für den Fall, dass sich die Sozialdemokraten zur Aufnahme von Gesprächen für eine Regierungsbildung entscheiden, sollten Gespräche in vier bis sechs Wochen abgeschlossen sein können.

Wenn das Anfang 2018 so weit ist, könnte es für den Familiennachzug zu spät sein, dessen befristete Aussetzung im März ausläuft.

Die Zeit ist knapp, das stimmt.

Sie könnten mit FDP und AfD beispielsweise eine Verlängerung der Aussetzung um zwei Jahre durchsetzen.

Wir sollten uns nicht entscheidend abhängig machen von einem Votum der AfD. Unsere Gesprächspartner sind SPD, FDP und Grüne.

Also brauchen Sie einen Kompromiss, dem diese Parteien zustimmen können.

Ich plädiere dafür, dass wir eine Lösung erarbeiten, mit der Zeit gewonnen würde, um dann ein dauerhaft gutes Ergebnis finden zu können. Klar ist, dass eine immer wiederkehrende Aussetzung einer Regel auf Dauer kein Problem löst. Einen ungesteuerten Familiennachzug mit unvorhersehbaren Zahlen lehne ich bekanntermaßen ab.

Taugt der Kompromiss der Jamaika-Verhandlungen für eine Vereinbarung mit FDP, Grünen und SPD?

Es gab noch keinen endgültigen Kompromiss. Aber vor der Schlussrunde gab es einen Vorschlag, von dem ich glaube, dass er im Zusammenhang mit anderen Kompromissen vielleicht zustimmungsfähig gewesen wäre.

Wie sah der aus?

Er fußt auf einem Rahmen von 200.000 Flüchtlingen im Jahr. Die Familienzusammenführung würde so gesteuert werden, dass die 200000 nicht überschritten werden. Aber wie gesagt, es gab kein Ergebnis.

Würden Sie so ein Paket in Koalitionsverhandlungen mit der SPD einbringen?

Jede Seite wird die Verhandlungen bei null beginnen, allerdings haben vorläufige Sondierungsstände sicher eine gewisse Ausstrahlungswirkung.

Warum benötigt Deutschland eine Regierung mit eigener Mehrheit im Bundestag?

Verlässlichkeit, Vorhersehbarkeit und Stabilität sind in schwierigen Zeiten und für eine gute Politik wichtig. Es wäre zum Beispiel nicht gut, wenn die Bundeskanzlerin bei Gesprächen in internationalen Gremien Zusagen machen würde, die sie nicht einhalten kann, weil unklar ist, ob das Parlament zustimmt.

Und wenn sich die SPD gegen eine große Koalition mit der Union entscheidet?

Ich setze darauf, dass es uns und den Sozialdemokraten gelingen wird, dem Land eine stabile Regierung zu geben. Wenn nicht, bewerten wir die Lage dann neu.

Angela Merkel ist es nicht gelungen, eine Koalition mit Grünen und FDP zu schmieden. Was bedeutet es für die Kanzlerin, wenn ihr das auch mit der SPD misslingt?

Ich teile Ihre Analyse nicht. Die FDP ist vom Tisch aufgestanden.

Über große Koalitionen wird gesagt, sie stärken die politischen Ränder und führen zu Stillstand. Gilt das jetzt nicht mehr?

Alle diese Gründe gelten nach wie vor. Genauso, wie es gute Gründe gegen eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen gibt. Nur, mit Gegenargumenten gibt es keine Lösung. In dieser schwierigen Lage geht es darum, aus der Gesamtsituation das Beste zu machen. Und das könnte nach Lage der Dinge eine neue große Koalition sein. In Zeiten, in denen selbst bisher große Volksparteien Bindekraft verlieren, müssen alle Parteien größere Bereitschaft zur Kompromissbildung beweisen. Wäre es umgekehrt, geriete das demokratische Prinzip einer notwendigen Regierungsbildung in eine Krise. Ich sage das an die Adresse aller Parteien, ausdrücklich auch an die kleineren. Je zersplitterter die Interessen im Land sind, umso größer ist die Verantwortung von Politik, durch Kompromissfindung Stabilität zu schaffen.

Ist FDP-Chef Christian Lindner dieser Verantwortung ausreichend nachgekommen?

Ich halte seine Entscheidung für falsch, ohne dass das eine Schuldfrage ist. Es wäre gut und notwendig gewesen, die Chancen einer Regierung mit Union und Grünen bis zum Ende auszuloten. Diese Chance hat die FDP nicht ergriffen. Als erfahrener Politiker kann ich nur sagen: Opposition ist oft die bequemere Lösung. Man behält immer recht, vor sich selbst und seinen Wählern. Regieren heißt dagegen schwierige Entscheidungen zu treffen, auch mal unrecht zu bekommen und seine Meinung ändern zu müssen, wenn es die Lage erfordert. Das erfordert Mut. Die FDP hat früher gezeigt, wie man in einer Regierung Verantwortung übernimmt und trotzdem das Profil der Partei schärft.

Obwohl die Gespräche von Union und SPD noch nicht begonnen haben, nennt die SPD schon Bedingungen für ein Bündnis. Wie erpressbar ist Angela Merkel?

Gar nicht. Ein Grund für das Scheitern der Jamaika-Sondierung war die Fülle der Interviews, in denen die Beteiligten gleich am Anfang gesagt haben, was mit ihnen zu machen ist und was nicht. Ich rate jetzt allen Seiten, sich mit solchen Forderungen zurückzuhalten.

Welche Fehler aus den Jamaika-Verhandlungen sollten sich nicht wiederholen?

Mein erster Rat: Die Verhandlungen, wenn sie denn zustande kommen, nicht über die Presse führen. Das heißt: kein Twittern aus den Verhandlungen, keine triumphale Bewertung von vorläufigen Ergebnissen. Kein Versuch, um des eigenen Vorteils willen, dem anderen während der Gespräche das Gesicht zu nehmen. Und schließlich kein Anspruch, sich in einem Koalitionsvertrag in jeder Einzelheit für die Zukunft zu binden.

Kann die SPD darauf vertrauen, dass sie mit der Union auf Augenhöhe verhandeln wird?

Selbstverständlich. Vertrauen kann nur entstehen, wenn alle Parteien das Gefühl haben, auf Augenhöhe zu verhandeln.

Das Gespräch führten Maria Fiedler und Antje Sirleschtov

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