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Ein Teilnehmer einer Kundgebung trägt eine Kippa vor dem Brandenburger Tor (Archivbild).

© picture alliance / Maja Hitij/dp

Inflationärer Gebrauch des Begriffs?: Warum darüber gestritten werden muss, was antisemitisch ist

Hart, heftig, herzlos: Der Erregungspegel bei Kontroversen über israelbezogenen Antisemitismus ist hoch. Was erklärt die Vehemenz? Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Antisemitismus in Deutschland ist alltäglich – und die Debatte darüber, was antisemitisch ist, auch. Mehr als 60 Wissenschaftler aus Deutschland und Israel warnen jetzt vor einem „inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs“. Diese Debatte muss geführt werden.

Ein Viertel der Deutschen denkt antisemitisch. Jüdische Gräber werden geschändet, Anschläge verübt, Menschen mit Davidstern und Kippa verprügelt. Dass in Halle an Yom Kippur ein bewaffneter Antisemit nicht in die Synagoge eindringen konnte, war der Widerstandsfähigkeit einer Tür zu verdanken. Wenn es aber eines Wunders bedarf, damit Juden in Deutschland nicht ermordet werden, ist die Gefahr allgegenwärtig.

Aktuell verstärkt wird sie durch Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit dem Coronavirus, Hetze gegen Prominente wie George Soros und einen ausgeprägten Antisemitismus unter arabischen Jugendlichen. Hinzu kommt ein israelbezogener Antisemitismus. Das Land werde dämonisiert, delegitimiert und mit doppelten Standards gemessen, lautet das Argument.

Vorwürfe dieser Art wurden gegen den ehemaligen Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, erhoben, den Kameruner Philosophen und Kolonialismusforscher Achille Mbembe, die neu ernannte Beraterin im Auswärtigen Amt, Nurhan Soykan.

Kritik an der BDS-Entscheidung des Bundestags

Im Zentrum der Kontroversen steht die in Deutschland relativ unbedeutende Bewegung BDS. Das Kürzel steht für eine Kampagne, die zu „Boycott, Divestment and Sanctions“ aufruft. Ihre Vertreter bezeichnen Israel als Apartheidstaat. BDS wurde 2005 gegründet und agiert global.

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Dass alle BDS-Aktivisten antisemitisch seien, wie es der Bundestag im Mai 2019 mehrheitlich verkündete, darf bezweifelt, eine Tendenz in diese Richtung nicht bagatellisiert werden. Hunderte jüdische Wissenschaftler haben die BDS-Entscheidung des Bundestags kritisiert.

"Nie Wieder" steht auf einer Kerze vor der Türte der Münchener Synagoge. (Archivbild)
"Nie Wieder" steht auf einer Kerze vor der Türte der Münchener Synagoge. (Archivbild)

© dpa/Lino Mirgeler

Der Furor freilich, mit dem rechtsnationalistische Kreise in Israel sowie konservative jüdische Influencer außerhalb Israels gegen BDS vorgehen, überrascht. Dadurch wird der Eindruck erweckt, es ginge um mehr. Was erklärt also den anhaltend hohen Erregungspegel bei jeder Art von BDS-Verdacht?

[Lesen Sie hier, worum es in dem Streit um den Antisemitismus-Begriff geht.]

Israel wird wohl auf lange Zeit Besatzungsmacht bleiben, denn die Zwei-Staaten-Lösung ist keine realistische Option mehr – durch wessen Schuld auch immer. Die Netanjahu-Regierung muss daher einen Zustand perpetuieren, der möglichst nicht thematisiert werden soll. BDS wird als Stachel empfunden, der diese Strategie durchlöchert.

Die Besatzung als ein Fluch

Die Ausflüchte, die insbesondere Groß-Israel-Apologeten vortragen, wenn die Besatzung zur Sprache kommt, sind vielfältig: Warum steht immer nur Israel am Pranger? In Syrien und dem Sudan ist es viel schlimmer; zu Tibet und Zypern schweigt die Welt; Iran, Hamas und Hisbollah bedrohen unsere Existenz; die Menschen in Europa haben kein Recht, Israel in Bezug auf das Nahostproblem Vorschriften zu machen. Jeder dieser Einwände ist berechtigt. Am Problem der Besatzung ändern sie nichts.

Der jüdische Gelehrte Jeschajahu Leibowitz warnte unmittelbar nach dem Sechstagekrieg, die Besatzung sei ein Fluch, ein größerer noch für die Besatzer als für die Besetzten. Israel ist ein starkes, demokratisches Hightechland. Die Fixierung auf die BDS-Bewegung offenbart eine vermeidbare Schwäche.

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